Der standhafte Papagei (Novel)
Description
Herr Firuz, Besitzer eines Spirituosenladens im Zentrum Teherans, begreift als Erster, dass sich etwas Großes zusammenbraut. Völlig unerwartet steht sein eigener Sohn als Anführer einer marodierenden Bande Jugendlicher vor dem Schaufenster des elterlichen Geschäfts und wirft wortwörtlich den ersten Stein. Während immer mehr Bewohner des Viertels sich der Chomeini nahestehenden Basidischi-Miliz anschließen, wird vor seinem Laden gestritten, gebetet und geschossen, zugleich erstarkt die Hoffnung, dass vielleicht doch etwas Gutes aus den Ruinen der gestürzten Monarchie entstehen kann. Doch die revolutionären Kräfte radikalisieren sich immer mehr und etablieren schließlich jenes unterdrückerische Regime, das die korrupte Gewaltherrschaft Pahlavis durch einen despotischen Gottesstaat ersetzte, unter dem die liberalen Kräfte im Land noch heute leiden. Amir Hassan Cheheltan war 22 und Student, als die ersten Flugblätter an den Häuserwänden auftauchten, die den Sturz des Schahs forderten. Seine Erinnerungen an damalige Nachbarn und Freunde, an Wut, Chaos und das tägliche Ringen um Normalität eröffnen ein Panorama der iranischen Gesellschaft in Zeiten von Protest, Gewalt und Unsicherheit und sind ein sowohl sachkundiges als auch persönliches Zeugnis von den Ereignissen, die den Iran, Teheran und insbesondere den Mikrokosmos seines Wohnviertels in den Jahren 1978 und 1979 erschütterten.
Reviews
Nur die Masse zählt
30 July 2019Wie das Regime der Mullahs seinen Ausgang nahm Nur die Masse zählt
Anfang 1979 steigen überall in Teheran Menschen auf die Dächer ihrer Häuser, um Zeuge eines bemerkenswerten Naturereignisses zu werden: Im Mond ist das Gesicht des Ajatollah Khomeini zu sehen. Sie erkennen nicht nur den Bart des Religionsführers, die Augen und den Mund, sondern auch die Sorgenfalte auf seiner Stirn. Der Mann, so viel scheint klar zu sein, ist auserwählt, um die Iraner in eine bessere Zukunft zu führen.
Als einige Tage später bekannt gegeben wird, dass Schah Reza Pahlavi das Land verlassen habe, sorgt das in der ganzen Stadt für Jubel und Freudentaumel. „Nie zuvor hatten die Menschen solche Begeisterungsstürme erlebt“, schreibt Amir Hassan Cheheltan in seinem Buch „Der standhafte Papagei“, in dem er sich an den Umsturz vor vierzig Jahren erinnert. Hunderttausende strömen auf die Straßen, sie skandieren „Allahu Akbar“ und stürzen Denkmäler. Bald werden Polizeireviere angegriffen; die Bevölkerung bewaffnet sich. Eine Revolution hat begonnen, die sich als islamisch versteht.
Schneidern statt Sex
Zu den ersten Opfern gehören Teherans Prostituierte. Der von einer Mauer umgebende Stadtteil Schahr-e Now, in dem Hunderte gearbeitet haben, wird in Brand gesetzt. Einige Monate später werden viele obdachlos gewordene Sexarbeiterinnen eine neue Aufgaben finden: Sie nähen Uniformen für den Krieg gegen den Irak.
Khomeini kehrt am 1. Februar 1979 in einer Air-France-Maschine aus seinem Pariser Exil nach Teheran zurück. Der damals 76-jährige Geistliche begibt sich vom Flughafen aus direkt zum Beheschte-Zahre-Friedhof, auf dem Hunderte Opfer beigesetzt wurden, die in den Monaten zuvor bei Demonstrationen gegen das Schah-Regime gestorben waren. Viele Anhänger des Königshauses sind bereits ins Ausland geflohen, doch die Generäle leisten noch Widerstand. Aber überall, wo Soldaten ausrücken, werden sie von Zivilisten umringt, die sie herzen und küssen, ihnen Blumenkränze umhängen und Botschaften Khomeinis vorlesen. Als junge Luftwaffenoffiziere gegen ihre Vorgesetzten meutern, hat die Revolution gesiegt.
Der kurze Sommer der Euphorie
Es sind euphorische Wochen. Cheheltan, der die Zeitenwende als 22-jähriger Student erlebt, spricht vom Gefühl einer „grenzenlosen Freiheit“. Zeitungen erscheinen drei Mal täglich und werden den Verkäufern aus den Händen gerissen. In den wenigen Monaten zwischen der alten und der neuen Diktatur, in denen die Zensur abgeschafft ist, werden mehr als zwei Millionen Bücher gedruckt und verkauft. Allerdings arbeiten Khomeinis Anhänger zielstrebig daran, die ganze Macht zu erobern. Für Demokratie und Gewaltenteilung haben sie nur Verachtung übrig.
Intellektuelle, die sich für Säkularität und gegen eine von Klerikern dominierte Regierung aussprechen, stehen auf verlorenem Posten. „Nach und nach wurde deutlich, dass nur die Politik der Straße Einfluss hatte, dass allein derjenige, der Millionen Menschen auf die Straße bringen konnte, über jeden anderen triumphieren würde“, schreibt Cheheltan. Ausschlaggebend für Khomeinis Erfolg sind die „Barfüßigen“, verarmte Angehörige der Unterschicht, die sich der Revolution anschließen, weil sie sich von ihr Aufstieg und Wohlstand erhoffen. Bei einem Volksentscheid stimmen 98 Prozent der Wähler am 30. März für die Schaffung einer Islamischen Republik.
Wie immer: Angriffe auf die freien Medien
Die Medien werden zügig muslimifiziert. Rundfunksprecherinnen verschwinden aus den Programmen, und im Fernsehen sind bald nur noch verschleierte Frauen zu sehen. Khomeini warnt die Presse: „Sie ist zwar frei, aber wir gestatten ihr keinesfalls, sich gegen uns zu verschwören.“ Seine Worte wirken als Aufruf zur Gewalt. Die Tageszeitung „Ajandegan“, bei den Imamen wegen ihrer kritischen Berichterstattung verhasst, wird angegriffen und bald darauf, wie vierzig weitere Blätter, verboten. Junge Radikale schließen sich zu einer Gruppierung zusammen, die sich Hisbollah, Partei Gottes, nennt, politische Veranstaltungen stürmt, Buchhandlungen anzündet und Oppositionelle verprügelt. Im Herbst, konstatiert Cheheltan, ist vom „Gefühl der Brüderlichkeit und Hilfsbereitschaft“, von dem das Land zu Beginn der Revolution erfüllt war, nichts mehr zu spüren.
In Cheheltans Buch wechseln dokumentarische mit romanhaften Passagen. Wie die Revolution die Gesellschaft des Iran aufwühlt und verwandelt, das beschreibt er aus dem Mikrokosmos des unweit der Universität gelegenen Stadtteils heraus, in dem er aufgewachsen ist. Dort sind es die Söhne, die sich gegen ihre Väter erheben. Als das Spirituosengeschäft von Herrn Firuz attackiert wird, Schaufenster und Flaschen zertrümmert werden, wirft Sohn Homajun den ersten Stein. Ein anderer junger Mann, Schahin, desertiert aus der Armee des Schahs und bringt den Nachbarn bei, wie man mit einem Gewehr umgeht. Und irgendwann taucht ein Papagei auf, der immer wieder „Lang lebe der Schah!“ krächzt. Alle Umerziehungsversuche scheitern.
Der nützliche Teufel USA
Diktaturen brauchen Feindbilder. Das Feindbild der Islamischen Republik Iran stand von Anfang an fest: Amerika. Schließlich war es der US-Geheimdienst CIA, mit dessen Hilfe sich der Schah 1953 an die Macht geputscht hatte. „Marg bar Amrika!“, Tod Amerika!, lautete der Schlachtruf der Studenten, die im November 1979 in die US-Botschaft in Teheran eindrangen und 52 Diplomaten als Geiseln nahmen. Amir Hassan Cheheltan, der nach Aufenthalten in Großbritannien, Italien und Deutschland inzwischen wieder im Iran lebt, macht kein Hehl daraus, dass er den Gottesstaat für gescheitert hält. Die „Marg bar Amrika!“-Rufe, klagt er, wurden so laut, dass die Stimmen derer, die Presse- und Versammlungsfreiheit forderten, bald nicht mehr zu hören waren. Aber verstummt sind sie nie.
Amir Hassan Cheheltan blickt zurück auf die iranische Revolution des Jahres 1979.
Von Christian Schröder
Revolution und Alltag
06 June 2019Wann begann die Revolution im Iran? Diese Frage steht am Anfang von Amir Hassan Cheheltans Erinnerungsband Der standhafte Papagei. 2018 anlässlich der 40-jährigen Wiederkehr der Umwälzungen im Iran in deutscher Übersetzung erschienen, bieten die Memoiren des 1956 in Teheran geborenen Schriftstellers eine Reihe von Antworten, von denen hier drei genannt seien: Etwa den 7. Januar 1978, als in der Teheraner Tageszeitung Ettela᾽at ein Artikel erscheint, in dem der damals im irakischen Exil lebende Ayatollah Khomeini stark angegriffen wird. Des Weiteren der 8. September 1978, an dem nach gewaltsamen Demonstrationen 64 Menschen nach Schusswechseln mit Soldaten sterben und der als „Schwarzer Freitag“ in die Geschichte des Landes eingeht. Ein drittes Datum ist der 6. November 1978, als Schah Mohammed Reza Pahlewi im Fernsehen auftritt und dem iranischen Volk mitteilt, dass er dessen Revolutionsruf gehört habe.
Der Ich-Erzähler blickt zurück auf ein ereignisreiches Jahr, nach dem Iran ein anderes Land sein wird. Die Erinnerungen reichen von der seit Ende 1978 zunehmend angespannten Situation in dem damals noch von der Schah-Regierung beherrschten Land bis hin zur Besetzung der US-Botschaft und Geiselnahme der dort arbeitenden US-Bürger im November 1979 in einer inzwischen islamischen Republik unter Ayatollah Khomeini. Für Cheheltan stellen Botschaftsbesetzung und Geiselnahme eine Zäsur in dieser Phase der Geschichte Irans dar, denn damit bringen, so Cheheltan, die Geistlichen die innenpolitischen Gegner und Konflikte mit einem Mal zum Verstummen – angesichts der Ablenkung auf einen äußeren Feind.
In seinen Erinnerungen schaut der Ich-Erzähler bitter, kritisch und selbstironisch auch auf sich als damals 22-jährigen Studenten im letzten Studienjahr und „auf dem Höhepunkt meiner jugendlichen Unerfahrenheit“: „Da ich einige Bücher gelesen hatte und mir sicher war, als Einziger im Umkreis deren Inhalt zu begreifen, bildete ich mir ein, über visionäre Kräfte zu verfügen und die Zukunft vorhersehen zu können.“ Wichtig ist auch, dass der Erzähler die Vorgänge in nuce am eigenen Viertel darstellt. Seine Zusammensetzung erscheint als „eines der wenigen ohne soziale Klassenstruktur“ und daher wie ein Querschnitt der Gesellschaft der Hauptstadt. So heißt es: „In unserem Stadtteil lebten Lehrer, Fabrikarbeiter und Einzelhändler Seite an Seite mit einem Arzt, einem Kapitalisten und sogar einem Mullah. Auch ein pensionierter General lebte hier mit einem großen Hund, dem einzigen Haushund in der Nachbarschaft.“
Der Stadtteil und einige seiner Figuren treten in den Erinnerungen immer wieder auf. An ihnen werden stellvertretend die Geschehnisse und Veränderungen aufgezeigt – etwa der Aufstieg des Moschee-Vorstehers Hadsch Agha Tarabi und der Abstieg des erwähnten Generals mit dem Hund. Eröffnet wird der Erinnerungsband mit dem Überfall auf ein Spirituosengeschäft des Herrn Firuz durch eine Gruppe junger Männer aus dem Viertel, unter ihnen auch Firuzʼ Sohn Homajun. Der Gegensatz Vater-Sohn beziehungsweise Vergangenheit-Zukunft, der durch den Tod des Sohnes zugunsten des Vaters ausfällt, kann als frühe Andeutung für die künftige Entwicklung im Iran gewertet werden: Der Aufstand der jungen, meist linken Revolutionären währt nur kurz, da schon bald die alte Herrschaft durch die Machtübernahme eines alten Mannes ersetzt wird. Die Machthaber und die Regierungsform ändern sich, die Strukturen bleiben im Grunde aber die gleichen. Es gibt, wie der Ich-Erzähler darstellt, einen fast fließenden Übergang.
Der standhafte Papagei könnte man auch als „Unpersönliche Erinnerungen“ bezeichnen. Denn stärker als auf die Schilderung der Ereignisse im eigenen Stadtviertel legt der Erzähler Wert auf die Darstellung des schleichenden Wechsels an Macht und Einfluss vom Regime des Schah, der am 16. Januar 1979 das Land verlässt, an Ayatollah Khomeini, der am 1. Februar 1979 mit einer Maschine der Air France aus dem kurzzeitigen französischen Exil nach Teheran zurückkehrt. Minutiös schildert der Ich-Erzähler die Demonstrationen und Kämpfe in der Hauptstadt und in anderen Teilen des Landes – insbesondere in Khusistan und Kurdistan –, zählt die Toten auf, macht aber immer wieder deutlich, wie früh bereits Khomeini und dessen Anhänger ihre neu gewonnene Macht etablieren wollen und dafür die anderen Revolutionäre, insbesondere die diversen linken Gruppierungen, schrittweise zu Gegnern der Umwälzung und des Islams erklären.
Ein großes Thema ist die allmähliche Islamisierung der iranischen Gesellschaft durch die Kleriker: Die Versorgung der Menschen infolge der Knappheit an Lebensmitteln durch die Gründung islamischer Genossenschaften in den Stadtvierteln, der Schleierzwang, das Ende der Koedukation in Schulen, die Geschlechtertrennung an den Stränden, das Verbot alkoholischer Getränke, das Verbot von Popmusik in den staatlichen Medien, die (Wieder-)Einführung der Pressezensur, das Verbot oder die Übernahme vor allem linker Medien durch die Islamisten, die zunehmende Instrumentalisierung geistlicher Rechtsgutachten, wenn es darum geht, politische Entscheidungen zu untermauern, die Aufforderung, geplünderte Waffen in Moscheen abzugeben, die zunehmende, dann massenweise Hinrichtung früherer Verantwortlicher im Staatsapparat, Militär und Geheimdienst des Schah, politischer Gegner sowie wirklicher oder vermeintlicher Krimineller. Die „Sturmtruppen“ der neuen, geistlichen Herrschaft im Iran stehen bereit, gegen die Gegner vorzugehen:
Eine khakifarbene Hose, darüber ein weites weißes Hemd, bis zum Kragen geschlossen, und obendrein ein schwarzer Vollbart, als Teil ihrer Uniform, aber auch Teil ihrer Identität, so traten sie auf – die neuen Muslime –, und wurden als Angehörige der Revolutionsausschüsse immer einflussreicher. Den Moscheen angegliedert, konnten sie ihre Waffen behalten, und mit einem revolutionärem Regime im Rücken zudem von außerordentlichen Möglichkeiten profitieren. Um verschiedene Ideen zu verbreiten, sahen die Jungmuslime einheitliche Kleidung vor, und wer andere Ideen vertrat, wurde ausgeschlossen. Die jungen Männer hatten den Auftrag, Leute, die sich früher bereits zustimmend über linke Gruppierungen geäußert hatten, nicht in ihre Reihen aufzunehmen, und im gesamten Viertel waren nur Demonstrationen für Ajatollah Khomeini oder gegen den Westen und gegen Israel erlaubt. Wenn auch linke Gruppen sich an Demonstrationen beteiligten, wurden deren Initiativen mit dem Hinweis unterbunden, Vorne gebe die Parolen vor, wobei ,Vorneʻ nie eindeutig auszumachen war.
Wie sind die Erinnerungen komponiert? Der Ich-Erzähler gibt wieder, was er selbst gesehen, aber immer wieder auch, was er der Presse entnommen oder über das Fernsehen erfahren hat. So entsteht eine Collage, die Extremes und Alltägliches, Erschreckendes und Skurriles miteinander verbindet. Für deutsche Leser höchstwahrscheinlich neu und soziologisch interessant sind die Schilderungen über die Bewegungen der Arbeits- und Obdachlosen in Teheran, die ihr Leben in die Hand nehmen und sich Arbeit oder eine Wohnstatt am Rande der Metropole schaffen. In diesen Passagen – und denen, in denen der Erzähler über die Orte des „kleinen Glücks“ schreibt, die sich die Menschen gegen die zunehmende Unfreiheit durch die Geistlichen schaffen – wird die Dynamik in der Bevölkerung, wie sie durch die Umwälzungen geschaffen und beschleunigt wird, besonders deutlich. Hervorzuheben sind auch die Passagen, in denen die Zusammenarbeit zwischen den USA und der neuen geistlichen Regierung in Teheran angedeutet oder belegt wird. Sie verdeutlichen die gemeinsamen Interessen im Kampf gegen den Kommunismus und Sowjetimperialismus – zu der Zeit, als Moskau in Afghanistan einmarschiert und der Islamismus vom Westen gefördert wird.
So spannend, weil neu und informativ sich weite Teile von Der Standhafte Papagei lesen und so groß die Bandbreite an Themen auch ist, die Cheheltans Ich-Erzähler behandelt, gibt es doch immer wieder Stellen, die auch die mit der neueren Geschichte Irans vertrauten Leser überraschen und Fragen aufwerfen. Die Aussage etwa, dass die „Amerikaner sich diesmal kaum in den Regierungswechsel im Iran einmischten“, steht konträr zum Ergebnis der Konferenz von Guadeloupe, die im Januar 1979 stattfindet und auf der sich die USA, Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik entscheiden, den Schah fallenzulassen und Khomeini die Rückkehr in den Iran nicht zu verweigern. Cheheltans Erzähler erwähnt diese Konferenz nur am Rande genauso wie den Aufenthalt von US-General Robert Huyser. Dieser wird ebenfalls im Januar 1979 von US-Präsident Jimmy Carter in den Iran entsandt, stellt dort die verunsicherten Schah-Militärs ruhig, hält sie von einem Putsch gegen Khomeini ab und arrangiert Treffen mit Personen aus der Umgebung des Ayatollah, damit dessen Machtübernahme gelingt.
Kritisch zu sehen ist Cheheltans Umgang mit der Frage der Ethnien im Iran. Sie sind für ihn im Grunde nicht existent, da er dazu tendiert, „Perser“ mit „Iraner“ gleichzusetzen, wie an einer Stelle besonders deutlich wird: „Ein Machtvakuum oder eine schwache Zentralregierung machen den Iranern immer Angst“, äußert der Erzähler. Eine solche Behauptung gilt mutmaßlich eher für ihn und für einen Teil der Perser im Iran. Sie gilt aber weit weniger für die nichtpersischen Ethnien. Diese verlieren mit der brutalen Zentralisierung der Macht in Teheran infolge der Regierungsübernahme der Pahlewis 1925 nicht nur ihre bis dahin bestehende starke politische Eigenständigkeit. Auch nach der Zäsur 1979 werden die aserbaidschanischen Türken, Kurden und anderen ethnischen Gruppen im Land daran gehindert, ihre Sprachen und Kulturen offen zu pflegen, obwohl dieses Recht in der Verfassung der Islamischen Republik garantiert ist.
Hier widerspricht sich der Erzähler auch selbst, wenn er in den Erinnerungen die Aufstände in den arabisch- und kurdischsprachigen Gebieten Irans mit thematisiert. Dass ausländische Mächte – nicht zuletzt die arabisch-sunnitischen Nachbarn und insbesondere Saddam Hussein – ein Interesse an einer Schwächung der Zentralregierung im Iran hatten, ist kein Geheimnis. Doch die Angst vor dem Machtverlust der Zentralregierung im Iran ängstigt bis heute einen Teil der Perser, die bei Forderungen nach mehr politischer und kultureller Selbstbestimmung in den von den anderen Ethnien bewohnten Gebieten Irans gleich den Vorwurf der Separation erheben, der letztlich nur als Totschlagargument dient, den nichtpersischen Ethnien ihre garantierten Rechte zu verwehren.
Cheheltans Der standhafte Papagei ist – mit den oben genannten Abstrichen – ein empfehlenswerter Erinnerungsband zur iranischen Revolution, dessen „unpersönliche“, weil chronistische und aufzählende Erzählweise jedoch nicht den subjektiven Charakter vergessen lassen sollte. Ein genaueres Lektorat seitens des Verlags Matthes & Seitz wäre geboten gewesen, da sich in der deutschen Ausgabe neben Redundanzen und Flüchtigkeitsfehlern auch fehlerhafte Angaben finden lassen, wie etwa dass Mahabad und nicht Täbriz die Hauptstadt der Provinz Aserbaidschan im Nordwesten Irans wäre.
History of a revolution
20 May 2019Amir Hassan Cheheltan has spent years publishing articles and novels in German. His latest book "The Steadfast Parrot" has also been published first in German. Though the author himself lives in Tehran, the question remains as to whether it can be released in Iran. By Volker Kaminski.
In Cheheltanʹs new book, subtitled “Memories of Iran 1979”, the narrator takes something of a backseat. Unlike his novel, The Calligrapher of Isfahan (2015), we are not led along the winding path of the protagonistʹs life. There is a fictional element to the book, but the real action reflects reportage-style the course of events which took place during the Islamic Revolution.
Cheheltan quotes from newspapers, radio broadcasts and television programmes and draws on a well-stocked archive (his own?), describing in detail those turbulent months between the abdication of the Shah and Ayatollah Khomeiniʹs unstoppable rise to become Supreme Leader. Not a day passes without people dying in police operations, without acts of sabotage and mass arrests and the number of daily executions is soon in the hundreds.
A district without social barriers
Alongside this political narrative, the book features the authorʹs alter ego who, aged 22, is studying literature in Tehran and lives in a central district of the city, free from social barriers, where a wide range of social classes is represented. The district is home to "teachers, factory workers and tradespeople [living] side by side with doctors, capitalists and even a Mullah."
In Mr Firuzʹ off-licence, residents of the neighbourhood, including the young narrator, stand around chatting animatedly about the latest news over a cold beer. Other residents are devout Muslims, who do not drink alcohol and visit the mosque several times a day. There is also another group which exists alongside Firuzʹ regulars and the mosque-attendees, a third group which unites the two, the "bridge builders", who have no problem enjoying alcohol in moderation and still pray.
This environment which has developed over centuries, where tolerance and solidarity between neighbours reigns, meets its greatest challenge yet over the course of 1979 and is badly damaged by the aftermath of the revolution.
"A Martyrʹs Father"
The narrator speculates over the event that sparked the beginning of the revolution. Alongside details about the politics of the time, he considers events in his district. Take, for example, the stone thrown by an angry supporter of the Ayatollah, which smashes the window of the off-licence on 5 November 1978 – an event which would be of little significance, if it werenʹt for the fact that Homajun the young activist, part of a group of demonstrators, who throws the first stone at Firuzʹ shop, is the ownerʹs son and confronts him face to face.
Shortly afterwards, Homajun takes part in a demonstration against the Shah and dies as the result of a shooting. From this day on, 1 January 1979, Mr Firuz refers to himself as "a martyrʹs father". For the narrator, this marks the true beginning of the revolution which plunges the whole country into chaos, its citizens suffering months of terror and fear.
Unfortunately, the narrator loses sight of his district throughout the course of the events, returning to it only sporadically. His tone is sometimes coloured with a gentle irony when he talks of "killing time in revolutionary times", by which he means youths fighting in the street, setting light to tyres, chanting slogans, distributing flyers and "playing cat and mouse with soldiers".
Dwindling optimism
Each page of the book makes clear the state of brutalisation and terrorisation of intellectuals and dissidents which can turn a country over to an era of revolution. Tyranny, a culture of informants and systematic persecution are the order of the day.
But hope continues to stir, a "springtime for freedom" seems at hand, theatre pieces are performed in the streets because the theatres themselves have been destroyed. But optimism dwindles quickly: "In the years to come, every young person will have to resign themselves to a life of austerity and abstinence. They have had it beaten into them." Equality and previously-won rights for women are retracted and it soon becomes unthinkable for a female presenter to appear on television without a headscarf.
The parrot sitting perched in a cage inside Mr Firuzʹ off-licence, stubbornly repeating the words "Long live the Shah!", is a mere trifle in the face of the hard facts of the matter, the bloody struggles for power, the storming of the U.S. embassy in Tehran and subsequent taking of hostages. This is a book in which history literally stands against individuals, who are overwhelmed by the events themselves.
Volker Kaminski
Translated from the German by Ayca Turkoglu
Da braut sich was Großes zusammen
26 March 2019Im November 1978 ist der Schah noch an der Macht, aber viele junge Leute marodieren durch die Straßen, demonstrieren gegen den Regenten und schlagen sich auf die Seite der marxistischen, militanten Volksmudschahedin oder fühlen sich von der islamischen Bewegung, deren Held der im Exil in Paris lebende Ajatollah Khomeini ist, angezogen.
«Der standhafte Papagei» (Matthes & Seitz Berlin, 2018). Amir Hassan Cheheltan erinnert sich in seinem neuen Roman an die Zeit zwischen 1978 und 1979, als die ersten Flugblätter auftauchten, die den Sturz des Schahs forderten. Er war damals 22 und Student in Teheran, genauso wie sein Ich-Erzähler. In Anekdoten und aberwitzigen Alltagssituationen schildert er die revolutionären Ereignisse am Beispiel eines Teheraner Wohnquartiers. Erzählt von Wut, Chaos, Protest, Gewalt und Unsicherheit. Wie in den Strassen gekämpft und gestorben wurde. Wie Schnapshandlungen zerstört, Kinos und Theater geschlossen wurden. Aber auch von Hoffnung, sozialem Engagement und Zusammenhalt. Vom Genre her ist das Buch Dokufiktion. Cheheltan mixt Sachkunde, Historie und selbst Erlebtes gekonnt. Er lässt mich so hautnah nachempfinden, wie das Repressionsregime des Schahs zu einem neuen Repressionsregime unter Ayatollah Chomeini mutierte. Eine eindrückliche Pflichtlektüre für alle, die den Iran verstehen wollen. Amir Hassan Cheheltans Roman konnte im Iran nicht publiziert werden und ist daher zuerst auf Deutsch erschienen. Das hat der Schriftsteller in einem Interview für die Sendung Kontext 40 Jahre Iranische Revolution meinem Kollegen Markus Gasser verraten. Und der Papagei im Buchtitel – der basiert auf einer witzigen Anekdote. Eines Tages tauchte in Teheran ein Papagei auf, der ständig krächzte: «Lang lebe der Schah». Das hätte Tier wie Besitzer den Kopf kosten können. Die Bewohner des Quartiers versuchten daher den Vogel umzuerziehen. Doch der Papagei verweigerte sich «Es lebe die islamische Revolution» zu sagen und blieb dem Schah ein Leben lang treu.
Was wurde aus dem Papagei? Was wurde aus jenen, die sich dem neuen Regime nicht unterwerfen wollten?
Der Chronist des Umsturzes
31 January 2019Als junger Student erlebte der iranische Schriftsteller Cheheltan als einer von vielen die Angst vor den Schahschergen, die Wut der Strassenkämpfe und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Aber auch die Ernüchterung, als Oppositionelle systematisch hingerichtet wurden und von den Frauen die Kopftuchpflicht verlangt wurde.
Davon berichtet Cheheltan in seinem neusten Buch «Der standhafte Papagei».
Im Gespräch erzählt der Autor von den Revolutionsmonaten und wie es kommen konnte, dass anfänglich so viele Menschen den Fanatiker Chomeini unterstützten.
Islamische Revolution: Im Rausch des Irrationalen
29 January 2019Klarsichtig und poetisch schreibt Amir Hassan Cheheltan einen Roman über die Islamische Revolution in Teheran 1979, als er selbst Student war
Im Schaufenster des Spirituosenhändlers
14 January 2019Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.01.2019
Im Schaufenster des Spirituosenhändlers
„Der standhafte Papagei“: Amir Hassan Cheheltan erinnert an Teheran 1979, als normale Menschen binnen
Kurzem zu Revoluzzern wurden. Er erzählt die Geschichte der Revolution von unten
VON SUSAN VAHABZADEH
Ohne Geschichte versteht man viele Dinge nicht, und dafür ist Iran ein ziemlich gutes Beispiel. Die Schlagworte Atomabkommen und Islamische Republik kennt jeder, aber wer weiß schon noch, dass der Zwist mit Amerika mit verstaatlichten Ölquellen zu tun hat, von denen die Briten meinten, sie gehörten ihnen? Es gebe, meint Amir Hassan Cheheltan, einer der wichtigsten persischen Schriftsteller des 21. Jahrhunderts, keine richtige iranische Geschichtsschreibung mehr – nur noch Versionen, die die Dinge sehr subjektiv im Licht ihrer eigenen Interessen beschreiben.
Er besorgt die Geschichtsschreibung also selbst, Buch um Buch. „Amerikaner töten in Teheran“ (2011) zeichnet in sechs Geschichten nach, wie seit den Fünfzigerjahren der Hass auf die USA entstand und sich ausbreitete; „Der Kaligraph von Isfahan“ erzählt von einem brutalen, aber temporären Ausbruch von Fundamentalismus im frühen 18. Jahrhundert; und sein neues Buch, „Der standhafte Papagei. Erinnerungen an Teheran 1979“ betrachtet nun die Revolution von unten. Er erzählt anhand ganz normaler Menschen in einem Viertel, wie innerhalb eines Jahres manche zu radikalen Revoluzzern wurden, die sich für Politik gar nicht interessiert hatten; und wie Menschen mit ganz unterschiedlichen Hoffnungen sich zusammentaten. Wenn auch nicht für ewig.
Man kann es sich schon vorstellen, dass diese Form der Privat-Geschichtsschreibung natürlich nicht in die Buchläden von Teheran findet. Amir Hassan Cheheltans Bücher erscheinen schon lange nicht mehr in Iran, sondern in Europa und Amerika, als Übersetzungen. Er lässt sich davon nicht beirren. „Für mich als Schriftsteller reicht es, wenn die Bücher einmal veröffentlicht werden – denn dann sind sie Teil der persischen Literaturgeschichte, und dagegen kann keiner mehr etwas unternehmen.“
„Der standhafte Papagei“ ist eine Mischung aus romanhaft erzählten Erinnerungen und Dokumentation. Man muss die Story mit dem Papagei nicht glauben, aber das meiste wird mit sachbuchgleicher Präzision verhandelt. Es ist egal, ob Cheheltan die Leute tatsächlich kannte, an denen entlang er von der islamischen Revolution erzählt – er kennt jedenfalls ihre Geschichten. So erfährt man beispielsweise von der Evolution des Begriffes „nackt“ anhand eines fremden Familienalbums, das im Viertel kursiert. Nackt heißt bald: Da gibt es auf einem Bild unverhüllte Fesseln zu sehen. Und wann eigentlich ging alles los? Cheheltan dekliniert das durch: bei den ersten großen Protesten am 9. November, oder schon am 5., als der Sohn des Spirituosenhändlers Firuz dem Vater eigenhändig die Schaufensterscheibe einwarf?
Firuz, der dann auf Porzellan umsattelt, gehört zu den zentralen Figuren des Viertels, von dem Cheheltan erzählt, aber in weiten Teilen ist „Der standhafte Papagei“ ein gutes Beispiel dafür, warum Cheheltan, der schon einmal ein paar Jahre im Exil gelebt hat, sagt, dass er Teheran braucht, um schreiben zu können. Nicht nur die Atmosphäre und die Menschen, sondern auch die Archive und die Bibliotheken.
Besessen hat er Details gesammelt, die oft viel mehr sind als blanke Information. So schreibt er beispielsweise, dass in der Kinonation Iran damals 128 Filmtheater zerstört wurden und dann doch das Kino wieder ganz wichtig wurde, als der erste Rauch der Revolution sich verzogen hatte. Akribisch zählt er auf, welche Filme liefen in den verbliebenen Kinos von Teheran, während die westliche Welt zum ersten Mal wirklich wahrnahm, dass im Nahen Osten ein religiöser Fundamentalismus entstanden war.
Die Revolutionäre von Teheran sahen derweil, unter anderem, „Der gelbe Rolls-Royce“, eine Komödie mit Louis de Funès und „Missing“ mit Jack Lemmon, von Constantin Costa-Gavras, der sogar in drei Kinos gleichzeitig lief. Letzterem mag bei seinem Erfolg geholfen haben, dass am Ende Henry Kissinger wegen des Militärputsches in Chile verklagt wird. Aber genau genommen haben sich all diese Filme damals auch die Europäer angesehen. Teheran 1979 kommt einem für einen Augenblick viel näher, als man es sich seit vierzig Jahren hat vorstellen können. Ein Buch wie „Der standhafte Papagei“ hätte Cheheltan bestimmt nirgendwo anders schreiben können. Die Geschichte von den Straßenmädchen etwa, die im Revolutionsgeschehen ausgeräuchert werden – und dann heuert man sie, ein Jahr später, wieder an: Als Ehefrauen auf Zeit, was immer das sein mag, für die jungen Soldaten, die ab 1980 in den Krieg gegen den Irak ziehen müssen. Setzt man sich bei der Zensur eigentlich tiefer in die Nesseln, wenn man etwas erfunden hat oder wenn es stimmt?
Man könnte Cheheltan vorwerfen, dass hinter all den nüchternen Schilderungen, wann wo was passiert ist, der Leser manchmal die Leute aus dem Viertel fast aus den Augen verliert, sie als Figuren den gleichen Wert haben wie die Premierminister und Ayatollahs in dieser Geschichte.
Irgendwann jedenfalls ist Herr Firuz der Held des Viertels, weil ihm ein Papagei anvertraut wird, von dem keiner so recht weiß, wo er herkommt – aber die Menschen sind so von Solidarität beseelt, dass sie das Vieh am Leben lassen, obwohl es einen gefährlichen Wortschatz hat. Der Papagei sagt immerzu: „Lang lebe der Schah!“ Er weiß nicht, was er redet, aber das ist ja bei Menschen auch oft so; und so wird Firuz es mit Umerziehungsmaßnahmen versuchen.
Cheheltan erzählt auch von all den hoffnungsvollen Liberalen und Intellektuellen, die am Ende eine ganz andere Republik wollten. Was ein Geschichtsbuch mutmaßlich unterschlagen würde, ist die Planlosigkeit dieser Revolution, die sich einfach so zu ergeben scheint und von der keiner wirklich weiß, wohin genau sie führen soll.
Die Studenten, die am Ende die amerikanische Botschaft stürmen, haben keine Vorstellung von den Folgen, die sie auslösen, sie haben darüber überhaupt nicht nachgedacht. Aber plötzlich sind die USA und der Schah an allem schuld.
Der Schah, der dann bald ausreist, soll sogar ein Kino in Brand gesteckt haben, in dem Feuer starben 400 Leute; und die Gerüchteküche will nicht glauben, dass das Feuer mit den Verfechtern einer islamischen Republik zu tun hat, die dekadente Freizeitgestaltung wie westliche Filme zu verteufeln beginnt. Das Verdrehen von Nachrichten, der abergläubische Blödsinn – das gibt es immer noch. Und das gibt es überall.
Ganz langsam und leise schleichen sich die Euphorie und die Solidarität wieder hinaus aus Cheheltans Chronik des Revolutionsjahres. Der Schah ist abgereist, das Volk macht den monarchistischen Straßenschildern mit Brechstangen den Garaus. Vor den Zeitungsredaktionen versammeln sich Demonstranten, die nach Zensur verlangen – Autoren, die ihnen nicht religiös genug sind, sollen nicht mehr gedruckt werden.
Wie viele seiner menschlichen Gefährten hat der Papagei einen Hauch von Freiheit gespürt, doch dann erfasst ihn der eisige Wind der Repression, er soll den Schnabel halten und am besten bis in seine Federspitzen ein anderer werden. Amir Hassan Cheheltan ist selbst ein bisschen wie dieser Papagei – die Umerziehung zur Schweigsamkeit würde er nicht aushalten.
Amir Hassan Cheheltan: Der standhafte Papagei – Erinnerungen an Teheran 1979. Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 197 Seiten, 22 Euro.
Seine Bücher werden Teil der
persischen Literaturgeschichte,
keiner kann dagegen etwas tun
Der Papagei hat einen Hauch
von Freiheit gespürt, doch dann
soll er den Schnabel halten
Junge Iraner vor der US-Botschaft in Teheran im November 1979. Im Februar war Ajatollah Khomeini aus dem Pariser Exil zurückgekehrt.
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Im Chaos des Übergangs
21 December 2018Zweiundzwanzig war er und Student, als Iran den Schah ins Exil schickte und Khomeiny im Triumph zurückholte. Nun hat der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan seine Erinnerungen an die Zeit des Umbruchs notiert.
Als der Schah von Persien, begleitet von zwei grossen Hunden, am 16. Januar 1979 in Teheran mit Tränen in den Augen das Flugzeug besteigt und sein Land einem ungewissen Schicksal überlässt, strömen Hunderttausende auf die Strasse und feiern das Ereignis mit Freudentänzen und Hupkonzerten. In den folgenden Wochen werden die Stimmen am lautesten, die nach dem verbannten Ayatollah Khomeiny verlangen und rufen: «Khomeiny, Khomeiny, mein Herz ist deine Landebahn!»
1979 wurde die von den USA unterstützte Gewaltherrschaft des Schahs Mohammed Reza Pahlewi durch das despotische theokratische Regime Khomeinys abgelöst. Doch bis es so weit war, gab es eine chaotische Übergangszeit. Um diese geht es in den Erinnerungen Amir Hassan Cheheltans. Der 1956 in Teheran geborene Autor zahlreicher Romane und Kurzgeschichten erlebte die Revolution als 22-jähriger Student an der Teheraner Universität. Sein Buch ist eine aus vielen Quellen schöpfende erzählerische Collage mit ausgeprägtem Sinn für das surreale Neben- und Nacheinander von Freuden und Schrecken, Verzweiflung und Übermut, Amüsantem und Groteskem.
Moscheen als Waffendepots
Da findet beispielsweise ein Ereignis Platz, das im Trubel nach der Abreise des Schahs kaum Aufmerksamkeit erregte, für Cheheltan aber bereits signalisierte, welch willkürliche Zerstörungskraft in Gang gekommen war. Nach Attacken auf den Geheimdienst Savak, das Militär und amerikanische Institutionen wählten «Aktivisten» als ein weiteres weiches Ziel das Teheraner Rotlichtviertel, ein kleines Städtchen im Herzen der grossen Stadt. Sie vertrieben Hunderte von Prostituierten und setzten das Quartier in Brand.
Cheheltan notiert auch machtanalytische Beobachtungen, etwa eine Passage darüber, was mit den während der Unruhen erbeuteten Waffen geschah. Khomeiny befahl, sie bei den Moscheen abzugeben. Zwar folgten der Order nur politische Gruppierungen, die nicht die Möglichkeit hatten, ihre Waffen zu verstecken, und einfache Leute, die es gewohnt waren, Befehlen von Autoritäten zu gehorchen. Doch allemal hatten nun «die frommen Iraner in den Revolutionskomitees der Moscheen nicht nur die Waffe des Glaubens, sondern auch G3-Gewehre, Pistolen und sogar MGs zur Verfügung». Damit hatte fortan in allen Stadtvierteln die jeweilige Moschee das Sagen.
Ganz vorbei war es mit der lockeren Atmosphäre im Gefolge des Umsturzes noch nicht. Wer von der armen Bevölkerung Teherans nicht in revolutionären Einrichtungen unterkam, war auf den Strassenhandel im Zentrum der Stadt angewiesen. Versuche, die Händler zu vertreiben, scheiterten zunächst. Allabendlich wurden die Gehwege zu bunten Jahrmärkten, und im Getümmel der fliegenden Händler, Käufer und Passanten erklangen spöttische Bemerkungen, Scherze, Musik, Gelächter. «Feste, Freude, Ausgelassenheit zum Nulltarif!» So der Autor, seine Sympathien bekundend, bevor er die bewaffneten Eskorten erwähnt, die diesem Treiben mit Konfiszierung und Zerstörung der Waren, mit Toten und Verletzten ein Ende machten.
Sprechende Details
Auch für das, was nach dem Sieg der Islamischen Revolution folgte, behält Cheheltan den Ton seiner Darstellung bei. Was könnte aufschlussreicher für das durch diese Revolution Erreichte sein als Details wie diese: Angehörige religiöser Minderheiten, die ein Lebensmittelgeschäft betrieben, mussten ihren Kunden mitteilen, dass sie keine Muslime seien. Oder: Boutiquenbesitzer, die nicht auf die Verwendung weiblicher Modepuppen verzichten wollten, mussten ihnen die Brüste kappen.
Indem er all das mit gelassener Aufmerksamkeit beleuchtet und vorführt, erweist der Autor sich als Meister einer melancholischen Aufklärung. Auf die Dauer werden auch die Zuschauer, die bei der öffentlichen Auspeitschung von Wucherern die Schläge mitzählen, zum Schluss kommen, dass dies nicht die Lösung ihrer Probleme sein kann – diese Hoffnung jedenfalls gibt Cheheltan nicht auf.
Amir Hassan Cheheltan: Der standhafte Papagei. Erinnerungen an Teheran 1979. Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich. Matthes & Seitz, Berlin 2018, 197 S., Fr. 29.50.
Frau allein? Darf nicht sein! Hinter diesem CD-Cover witterten die Behörden einen Verstoss gegen die islamische Moral. (Bild: pd)
Das Gesicht des Ajatollahs im Mond
06 October 2018Macht und Ohnmacht: Erinnerungen des iranischen Autors Amir Hassan Cheheltan an die Islamische Revolution 1979 und ihre Folgen für die Menschen.
Von Verena Lueken
Wann genau begann die Iranische Revolution? War es am 7. Januar 1978, als in einer Tageszeitung ein verunglimpfender Artikel über Ajatollah Chomeini erschien, der im Exil im Irak saß, und am Tag darauf Männer, die gegen diesen Artikel protestierten, in Ghom mit Militärgewalt aufgehalten wurden und es zu einem Blutbad kam? Oder war es am 8. September 1978, dem Tag eines enormen Protestmarschs in Teheran, bei dem zahlreiche Menschen getötet wurden, niedergeschossen von den Soldaten des Schahs? Oder vielleicht am 6. November desselben Jahres, als der Schah im Fernsehen zugab, Fehler gemacht zu haben? Oder doch am Tag zuvor, jenem 5. November, an dem Homajun Firuz als Teilnehmer einer Demonstration gegen den Schah die Scheibe zum Spirituosengeschäft seines Vaters einwarf und zur Plünderung des Ladens aufrief? Es gibt gute Gründe, jedes dieser Ereignisse für den Beginn der Revolution in Iran zu halten. Amir Hassan Cheheltan zählt sie auf und wägt. Schließlich spricht das beste Argument seiner Ansicht nach für den 1. Januar 1979.
An diesem Tag wurde Homajun in seinem Kampf gegen den Schah auf der Straße angeschossen und erlag kurz darauf seinen Verletzungen, und der Spirituosenhändler Firuz wurde wieder ein anerkannter Bürger. Nach der Plünderung seines Geschäfts durch seinen Sohn und dessen revolutionär Gleichgesinnte war der Spirituosenhändler im Viertel nicht mehr hoch angesehen und monatelang isoliert gewesen. Am 1. Januar 1979 aber, dem Todestag seines Sohnes, stattete ihm der Moscheevorsteher Hadsch Agha Tarabi mit einigen regelmäßigen Moscheegehern einen Kondolenzbesuch ab. Der Spirituosenhändler war nun der Vater eines Märtyrers. Und er erwies sich der neuen Rolle ohne Zögern als würdig - ein untrügliches Zeichen für den Beginn der neuen Zeit und einer der ersten Erfolge der Revolution, bevor der Schah sechs Wochen später tatsächlich gestürzt wurde.
Im ersten Kapitel seines neuen Buchs, in dem er die Frage nach dem Beginn der Revolution stellt, erweist sich Amir Hassan Cheheltan aufs Neue als der vielschichtige, ironieversierte Beobachter und Erzähler, als den wir ihn in seinen früheren Büchern über seine Heimatstadt Teheran und sein Land Iran kennengelernt haben. Hier berichtet er aus der Erinnerung, was während der Islamischen Revolution geschah - und zwar anhand der Erlebnisse vor allem in dem Viertel, in dem er wohnte, einem mittelständischen Stadtteil mit Händlern und Handwerkern, einige gläubig, andere weniger, die meisten geschmeidig, wenn es um ihre politischen Sympathien ging. Cheheltan selbst war damals zweiundzwanzig und steht ein wenig abseits vom Geschehen, aber mit scharfer Beobachtungsgabe und möglicherweise einem Notizbuch, so farbig sind die Details, so genau die Beschreibungen der Geschehnisse, des Protests immer neuer Gruppen von Unzufriedenen, Ausgegrenzten, Arbeitslosen, Wohnungslosen, und auch der Armenbewegung, die ideologisch ungebunden am Rand von Teheran Siedlungen gründete.
Was aus den Kinos wurde, aus den Prostituierten und Bordellen, aus den Büchern, der Universität, den Zeitungen und Radiostationen, aus den Fernsehanstalten und aus dem Alkohol, der nicht nur in Firuz' Spirituosenladen ausgeschenkt wurde - all das erzählt Cheheltan einerseits nüchtern, andererseits fällt er manchmal in seinen typischen fast märchenverhafteten Erzählton, etwa wenn es um die rasante Inflation oder auch den titelgebenden Vogel geht, der "Lang lebe der Schah" kräht, als das niemand mehr unterschreiben würde und die Fatwa gegen den Schah längst verhängt ist.
Erstmals am 2. Dezember 1978 hörte Cheheltan in seinem Viertel die Rufe "Allahu Akbar". Vermutlich war es die Frau des Schneiders, die damit anfing, und dann schallte es plötzlich von allen Dächern. "Wie wandlungsfähig Menschen sein können, sobald der Wind sich dreht", so dachte er damals schon und hielt sich am Rande, selbst als eines Tages im Mond das Gesicht des Ajatollah Chomeini erschien. Auch der Spirituosenhändler Firuz konnte es sehen. Er und viele andere kletterten auf die Dächer, und Firuz "konnte den Bart des Ajatollahs ausmachen, den Mund, die Augen, die Brauen, auch die Nase und sogar die dauerhafte Sorgenfalte auf der Stirn, ein Zeichen für seine überirdischen Kräfte". Auch solcher Mumpitz gehörte zur Mechanik dieser Revolution.
Cheheltan lässt die großen politischen Ereignisse, vor allem den Kampf der Kurden, nicht unerwähnt. Aber vor allem interessiert ihn, wie die Menschen reagieren, wie sich die Stimmung dreht, die Gewalt hochschaukelt, wie Macht durch Bewaffnung plötzlich verführerisch wird in Kreisen, die vorher vor allem Tee tranken und manchmal einen Schluck beim Spirituosenhändler nahmen, und wie langsam, aber sicher der Klerus durch Nachbarschaftsvereine, Nothilfen und schließlich brutale Herrschaft aus jedem religiösen Anlass ein politisches Ereignis und die neuerliche Islamisierung der Iraner zu ihrer vordringlichen Aufgabe machte.
Die Frauen ergaben sich teilweise nicht ohne Widerstand, doch der Entzug ihrer Rechte geschah in den ersten Tagen nach der Rückkehr Chomeinis. Und je rechtloser die Menschen wurden, desto selbstverständlicher wurde ihnen offenbar die Gewalt, die öffentlichen Auspeitschungen, die öffentlichen Hinrichtungen, die blutige Rache als Prinzip und Zerstörung als politische Agenda. Eine wahre Geschichte des Horrors, auf eine Weise erzählt, in der aufscheint, dass es auch anders hätte kommen können.
Amir Hassan Cheheltan: "Der standhafte Papagei". Erinnerungen an Teheran 1979.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. 197 S., geb., 22,- [Euro].
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Vergessenes Werk von Kurt Weill im Konzert Theater Bern
03 September 2018«Love Life» ist eines der letzten grossen Werke von Kurt Weill. Er setzte sich darin als Exilant in den USA kritisch mit dem Kapitalismus auseinander. Nach einem guten Start am Broadway 1948 verschwand das Stück in der Versenkung. Jetzt ist seine Wiederbelebung am Konzert Theater Bern zu sehen.
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Susan Vahabzadeh bewundert Amir Hassan Cheheltan für seine Redseligkeit, mit der er seine private Geschichtsschreibung betreibt. Wie der im Exil lebende Autor die iranische Revolution in diesem Buch von unten betrachtet, aus der Perspektive normaler Menschen in seinem Viertel, als Mischung aus Roman und Dokumentation, Erinnerung und Sachbuch, findet Vahabzadeh lesenswert. Wie wirklichkeitsnah der Autor tatsächlich vorgeht, scheint ihr letztlich zweitrangig, die Geschichten im Buch sind genau recherchiert und nacherzählt, meint sie, auch wenn die Figuren manchmal dahinter verschwinden.