Gleich zwölf Siegerinnen kürt der Internationale Literaturpreis in diesem Jahr. Ob es um Siegerjustiz in Bulgarien geht, um das Erdbeben von Haiti oder eine Liebe in Nigeria - in erster Linie kommt es auf die Sprache an.
Seit 2009 verleihen das Haus der Kulturen der Welt und die Stiftung Elementarteilchen den Internationalen Literaturpreis (ILP) und zeichnen damit ein herausragendes Werk der aktuellen internationalen Literatur und seine Erstübersetzung ins Deutsche aus. Die Würdigung hat über die Jahre hinweg immer wieder dazu beigetragen, die Stimmen bis dahin noch relativ unbekannter Autorinnen und Autoren in Deutschland deutlich hörbar zu machen. Das galt 2013 für den aus Nigeria stammenden amerikanischen Autor Teju Cole und seinen Roman "Open City", 2016 für die indisch-französische Autorin Shumona Sinha und ihren provokanten Flüchtlingsroman "Erschlagt die Armen!" wie auch im letzten Jahr für die Mexikanerin Fernanda Melchior und ihren Roman der Armut "Saison der Wirbelstürme".
Gewöhnlich wird das Sieger-Duo für den besten Roman und die tollste Übersetzung mit einem großen Fest gefeiert, zu dem auch alle anderen Autorinnen und Übersetzer der für die Endrunde nominierten Bücher eingeladen sind. Das Publikum freut sich über Lesungen, Diskussionen und zwanglose Gespräche auf der Dachterrasse des Haus der Kulturen der Welt in Berlin, die oft von weither angereisten Schriftsteller und Übersetzerinnen über die Möglichkeit, deutschen Literaturinteressierten zu begegnen und ihren Aufenthalt zu weiteren Lesungen und Medienkontakten zu nutzen. Und natürlich ist auch das Preisgeld für den Siegertitel ein Anreiz, dotiert mit 20.000 Euro für die Verfasserin (den Verfasser) und 15.000 für die Übertragung.
Im zwölften Jahr des ILP ist alles anders. Das Haus der Kulturen der Welt (HKW) hat sich gemeinsam mit der siebenköpfigen Jury entschieden, im Ausnahmejahr 2020 nicht ein einzelnes Buch auszuzeichnen, sondern gleich alle sechs Titel der Shortlist. Diesmal gibt es also nicht zwei, sondern zwölf Gewinner und Gewinnerinnen, unter denen das Preisgeld von 36.000 Euro aufgeteilt wird. Man wollte in der aktuell für viele Kulturschaffende prekären Situation nicht ein einzelnes Werk, sondern die Arbeit und Stimmen vieler würdigen, so die Veranstalter.
Gemeinsam gefeiert konnte dabei nicht werden. Ähnlich wie schon beim Preis der Leipziger Buchmesse wurden die ausgezeichneten Bücher am 4. Juni in einer Sondersendung des Deutschlandradio Kultur bekanntgegeben. Und der neue Modus der Preisvergabe hat auch Vorteile: Die ausgezeichneten Bücher spiegeln Welten von vier Kontinenten, aus Afrika, Asien, Europa und Nordamerika. "Sie zeigen uns die Welt als großen Möglichkeitsraum", erklärte die Jury. "Sie zeugen von der großen Vielstimmigkeit der Welt."
Dies sind die prämierten Bücher:
Glückliche Fälle
"Ich glaube, dass man an nichts endgültig glauben kann. Der bloße Versuch ist sinnlos." Es sind meist widerborstige Frauen, von deren Leben zwischen Kiew und dem Donbass Yevgenia Belorusets erzählt. Die 40-jährige Fotografin, Künstlerin und Schriftstellerin, die abwechselnd in der Ukraine und in Berlin lebt, hat während mehrerer Recherchereisen mit solchen von der Geschichte vergessenen Frauen gesprochen. Ihre Porträts von Floristinnen, Schwestern oder Kundinnen im Kosmetikstudio sind jedoch nicht dokumentarisch, sondern literarisch verdichtet und durch Fotos kontrastiert. Wie formt einen ein Leben im Zeichen von Besatzung und Aufstand? "Die Blumen im Hof sind verwelkt, die Rabatten von Autoreifen zerfurcht, die Kinder sind dreckig, die Büsche tragen keine Blüten. Aus der schwarzen Fensteröffnung ragt ein riesiger Handschuh. Maria Iljinitschna macht sich für die Arbeit fertig."
Yevgenia Belorusets: Glückliche Fälle, aus dem Russischen von Claudia Dathe, Matthes & Seitz, 2019
Die Sanftmütigen
Die "Sanftmütigen" sind die Erzähler, die sich erst am Ende des Romans als stille Beobachter outen. Igovs Buch erzählt von den Geschehnissen um die bulgarischen Volksgerichte 1944, als die Siegerjustiz der Kommunisten innerhalb weniger Wochen Tausende anklagte, um potentielle Gegner und Konkurrenten des neuen Regimes zu liquidieren und seine Macht zu stabilisieren. Igor erzählt vom Aufbruch seines Protagonisten Emil Strezov in die neue Zeit, ein privates wird zum kollektiven Schicksal. Angel Igov, geb. 1981, lebt als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist in Sofia. Sein Roman stützt sich auf Materialien in den erst kürzlich geöffneten Archiven. "Ein Buch, das schon jetzt zur Weltliteratur gehört", urteilte die Jurorin Elisabeth Ruge.
Angel Igov: Die Sanftmütigen, aus dem Bulgarischen von Andreas Tretner, eta Verlag, 2019.
Das Weinen der Vögel
Man lernt eine Menge Namen und Begriffe aus Afro-Religionen in Chigozie Obiomas neuem Roman, der "fest in der Kosmologie der Igbo verankert" ist, wie der nigerianische Autor in seinem Nachwort schreibt. Dabei geht es eigentlich um das Schicksal eines Geflügelfarmers, der seinen Bauernhof verkaufen möchte, um in Nordzypern einen akademischen Abschluss zu erlangen. Ohne einen materiellen Aufstieg, so glaubt er, würde er niemals seine Geliebte heiraten können. Jurymitglied Daniel Medin liest "Das Weinen der Vögel" als philosophischen Roman "von seltener Ambition und Breite, der mit unerbittlicher Präzision die Freiheit des menschlichen Willens hinterfragt". Erzählt wird das Epos über Erniedrigte und Beleidigte von einem 700-jährigen Schutzgeist. Obioma wurde als Erneuerer des afrikanischen Romans bekannt mit seinem Debütroman "Der dunkle Fluss".
Chigozie Obioma: Das Weinen der Vögel, aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner, Piper, 2019
Der Zirkel der Literaturliebhaber
Sieben Bücher hat der iranische Autor in Deutschland veröffentlicht, in seiner Heimat seit mehr als 15 Jahren keines. "Der Zirkel der Literaturliebhaber" erzählt vom Beginn der islamischen Revolution 1978, als der Junge im Buch gerade 15 war, sich mit der Entdeckung seiner Sexualität herumschlug, während die Schah-Milizen Massaker anrichteten und fromme muslimische und revolutionäre Kräfte in Teherans Rotlichtviertel Feuer legten. Cheheltan folgt seinen Erinnerungen, erzählt von der Liebe zur Literatur, der subversiven Welt der Literaturliebhaber, die sich jahrzehntelang donnerstags im Haus seines Vaters trafen. Sie fand ein jähes Ende durch die Verfolgungen und Morde von Schriftstellern durch die Geheimpolizei des Ayatollah-Regimes.
Ist dieses Buch noch ein Roman? Oder vielleicht doch eher eine Autobiografie? Cheheltan hat die Geschehnisse auf der Zeitachse von Erinnerung und Leben um etwa 15 Jahre verschoben. Aber was er erzählt, ist wahr, tiefgründig und berührend. "Als die vier Wände unseres Gästezimmers in sich zusammen fielen und nichts als eine Staubwolke übrig blieb, wurde unsere Donnerstagsrunde, die mein Leben verändert, ihm Wärme und eine neue Bedeutung gegeben hatte, diese kleine, schöne Welt, der ich mein Lebensgefühl verdankte und die uns jahrzehntelang wie ein Schutzmantel vor äußeren Bedrohungen bewahrt hatte, binnen weniger Minuten zunichte."
Amir Hassan Cheheltan: Der Zirkel der Literaturliebhaber, aus dem Persischen von Julia Himmelreich, C.H.Beck, 2020
Was für ein Wunder
Der 1978 in Haiti geborene James Noël hat einen Text verfasst über die Erdbeben-Katastrophe in Haiti, die die Hauptstadt Port-au-Prince 2010 zerstörte und bis zu 500.000 Todesopfer forderte. Warum nur trägt der im Original 2017 erschienen Roman einen so hoffnungsvollen, blumigen Titel? Noël, der sich auch als Lyriker auszeichnete, zitiert die Umgangssprache des Volkes, seinen Sarkasmus und seine Glaubensbereitschaft. Er erzählt von weiteren katastrophalen Folgen der Katastrophe, von Cholera, medialen Irreführungen und scheiternden Hilfseinsätzen. Von einer flippigen Liebe, Chaosforschung und Schmetterlingseffekt. "Was für ein Wunder" ist ein Erdbebenroman, aber auch ein langer Essay, und vor allem ein sprachliches Widerstandsmonument.
James Noël: Was für ein Wunder, aus dem Französischen von Rike Bolte, Litradukt, 2020
Geile Deko
"Belà Gotterbarm schrieb Avantgarde-Behindertristik, möglicherweise wegweisend. In einer Gemeindebauwohnung im 10. Stock in der Harpur Street in der Londoner Innenstadt stand Belàs Laptop auf der Resopaltischplatte. Nicht ahnend, dass hier ein schwules Sozial stattfand, arbeitete Belà am Skript für eine neue 8-teilige Fernseherie, Arbeitstitel Quervogel." Isabel Waidners Roman ist keinesfalls von einer linearen Handlung getragen. Was nach "gefälliger Reihenfolge" verlangt, wird im Gegenteil nach Kräften verwirrt, verrückt gegendert. Die experimentelle Novelle ist die reine Lust am Sprachspiel, die Ann Cotten phänomenal einfallsreich ins Deutsche gebracht hat.
Isabel Waidner: Geile Deko, aus dem Englischen von Ann Cotten, Merve, 2019