wenn die zivilisatorische

 

Der 1956 geborene, in Teheran lebende Amir Hassan Cheheltan ist einer der anerkanntesten iranischen Autoren und auf dem deutschen Buchmarkt sehr präsent – so sehr, dass in diesem Herbst sogar zwei Bücher von ihm gleichzeitig erschienen sind: zum einen der 2005 von der iranischen Zensur gekürzte Roman „Iranische Dämmerung“ über die Wirren der „islamischen“ Revolution von 1979. Und zum anderen Cheheltans jüngster, erst vor wenigen Monaten fertiggestellter Roman „Der Kalligraph von Isfahan“, der sogar seine Weltpremiere auf Deutsch hat.

Solche Romanflüchtlinge aufzunehmen ist ein Geschenk an die deutschen Leser und ein Vertrauensbeweis gegenüber den deutschen Verlagen und Übersetzern. Aber die damit einhergehende Entbettung der Literatur birgt auch Gefahren. Der Autor und sein Publikum haben keinen gemeinsamen Erfahrungshorizont mehr. Jedes neue Buch, das unter diesen Bedingungen erscheint, ist ein Schuss ins Blaue.

Dieses vierte Buch von Cheheltan auf Deutsch ist ein Beispiel dafür. Der historische Roman – ein in der iranischen Literatur seltenes Genre -– spielt im Jahr 1722. Es sind die letzten Monate der Herrschaft der Safawiden, die unter Schah Abbas ein Jahrhundert zuvor Isfahan zu ungekannter Blüte geführt hatten. Nun wird die Stadt von Afghanen belagert. Von den Isfahanern werden sie die „Barfüßigen“ genannt: Sie erscheinen ihnen als Barbaren. Zugleich schafft der Autor damit eine Situation, die den heutigen iranischen Leser an die westliche Embargopolitik erinnert, die Iran bis zum Ende der Atomverhandlungen im Griff gehalten hat.

 

 

Im moralischen Niemandsland


Held und Erzähler der Geschichte ist der achtzehnjährige Allahyar, Enkel des berühmtesten Kalligraphen der Stadt, dessen Abschriften der Gedichte Rumis begehrte Sammlerobjekte sind und der die schöngeistige Tradition der Stadt verkörpert, den barmherzigen Islam. In Opposition dazu steht die machthabende schiitische Geistlichkeit. Sie ist korrupt, brutal und hält sogar die Gedichte Rumis für Ketzerei. Schon dieses Detail dürfte genügt haben, um eine Publikation in Iran, wo die Mullahs genau in dieser Tradition herrschen, unmöglich zu machen.

Den eigentlichen Reiz des Romans bilden jedoch Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele, die er gewährt. Die Belagerung und die dadurch ausgelöste Hungersnot zerstören die zivilisatorische Fassade der Isfahaner. Bei dieser Schilderung des moralischen Verfalls dringt Cheheltan zum Eigentlichen seines literarischen Schaffens vor, wie wir es aus seinen anderen, in der Gegenwart spielenden Romanen kennen. Hier wie dort ist der Autor ein Meister darin, seine Figuren in ein moralisches Niemandsland laufen zu lassen und sie mit ihrer Haltlosigkeit und nackten Fleischlichkeit zu konfrontieren.

Der Großvater, vordergründig die Lichtgestalt des Buchs, beschließt einfach zu sterben, als die Situation in Isfahan zu schwierig wird, und lässt so die Familie in der größten Not allein. Allahyar kann sich selbst in der ärgsten Hungersnot nicht zwischen der sexuellen Anziehung zur Christin Manush und seiner eigentlichen Geliebten Yasmin entscheiden, die ihn zappeln lässt. Und dann betrügt er beide mit einer Nachbarin, die sich ihm für einen Laib Brot anbietet. Er ahmt die Handschrift seines Großvaters nach und würdigt die alte kalligraphische Tradition seiner Familie auf den Kopistenstatus herab, um die Manuskripte gegen ein wenig Mehl zu tauschen. Währenddessen verzehren die Isfahaner die Kadaver ihrer Mitbürger oder sogar die eigenen Kinder.

Nicht die Afghanen, die im Buch gar nicht zu sehen (sondern nur, ganz am Ende, zu hören) sind, zeigen sich als Barbaren, sondern die eingebildeten Isfahaner selbst. Schließlich fallen Kapitulation und Einmarsch der Belagerer mit der Vereinigung mit der Geliebten zusammen: „Genau in dem Augenblick, als er kam, trat ein Soldat die Haustür ein“ – ein plastisches und zugleich widersprüchliches Bild für die in der islamischen Mystik verbreitete These, dass die wahre Liebe nur um den Preis der Selbstaufgabe zu haben ist. Aber ist das wirklich so?

Cheheltans Roman ist eher eine Versuchsanordnung über Moral und Kultur in Krisenzeiten als ein historischer Roman. Mit Schmökern des Genres wie „Der Medicus“ (der ja ebenfalls nach Isfahan führt) oder „Der Name der Rose“ sollte man ihn nicht vergleichen. „Der Kalligraph von Isfahan“ ist ambitionierter, dafür mangelt es an Action und für die Leser, die Isfahan nicht kennen, wohl auch an Kolorit. Diese seltsame Mischung führt dazu, dass der Roman so unheimlich ist wie ein bedrohlicher Traum, den man nicht zu deuten versteht. Man darf gespannt sein, ob die iranischen Leser dies genauso sehen, wenn das Buch in hoffentlich nicht allzu ferner Zeit statt in der schönen Übersetzung von Kurt Scharf auch im persischen Original erscheint.

 

 

BY: STEFAN WEIDNER (F.A.Z)