unabhaengige stimme amir

Es ist sehr ruhig am Rand von Charlottenburg, wo in einem Haus zwischen hohen Bäumen seit einigen Wochen der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan wohnt. Seine Frau Shala, sein Sohn Ashkan und er verbringen ihre Tage damit, ehrgeizig Deutsch zu lernen, herauszufinden, wie Berlin funktioniert, wohin man gehen kann, wenn man Unterhaltung sucht. Was das eigentlich ist. Wer sie besucht, will über Politik sprechen und darüber, wie es wohl weitergeht in Iran, welche Aussichten die Protestbewegung hat, jetzt, da Ahmadineschad endgültig als wiedergewählt gilt und die Prozesse gegen seine Gegner laufen. Ashkan verabschiedet sich dann, sobald die Höflichkeit es gestattet. Ungeheuer höflich sind sie alle drei.
Cheheltan hat ein Literaturstipendium des DAAD für ein Jahr, er hat mit seiner Familie Teheran am 30. Juni verlassen und kurz vor der Abreise noch ein Tagebuch des Protestes für diese Zeitung abgeschlossen (Autor Cheheltan: Meine letzten Tage in Iran). Seitdem verbringt er vier, fünf Stunden täglich damit, E-Mails aus Iran zu beantworten, achtzig bis hundert erreichen ihn jeden Tag. Er will ein Jahr in Berlin leben, vor allem auch um seiner Familie willen, aber er hält es kaum aus, nicht in Teheran zu sein. Ein Gefühl unversöhnter Hass-Liebe verbindet ihn mit der Stadt, ein Gefühl, in dem beide Pole gleich stark strahlen, so dass er unruhig wird, wenn er sich anderswo aufhält.

 

Porträt einer verrottenden Gesellschaft

Dabei hat er die Zeit seines Deutschlandbesuchs sorgfältig geplant. Zum ersten Mal erscheint in diesen Tagen einer seiner Romane in deutscher Übersetzung („Teheran Revolutionsstraße“. Aus dem Persischen von Susanne Baghestani. P. Kirchheim Verlag, München), es ist der achte, den er geschrieben hat, er hat Termine für Lesungen, Einladungen zu Literaturfestivals und zur Buchmesse. Der Zensurbehörde in Iran hat er das Buch, das grausam und teilweise sexuell explizit ist, gar nicht erst vorgelegt. Seit eineinhalb Jahren liegt dort aber ein weiterer Roman von ihm zur Genehmigung. Willkür herrscht, wer weiß, wann von diesem Buch wieder die Rede sein wird.

In „Teheran Revolutionsstraße“ erzählt Cheheltan in gewisser Weise die Vorgeschichte der Proteste, bei denen es ja nicht um Ideologien und Programme ging, sondern ums Leben. Darum, nicht mehr gezwungen zu werden, es vollständig zu verpassen. Aber der Roman handelt nicht von Gegnern des Systems, sondern vom Alltag verschiedener Figuren unter den Bedingungen einer verrottenden Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der jeder mindestens zwei Identitäten hat, kaum einer weiß, wer er eigentlich ist, aber jeder ein ungestilltes Verlangen in sich trägt – ein Verlangen nach Nähe, nach einem anderen Körper, danach, von einem anderen in seinem wahren Wesen erkannt zu werden, wogegen spricht, dass niemand ist, wer er zu sein vorgibt, jedenfalls nicht ganz und nicht immer.

 

Parallele Welten

„Teheran Revolutionsstraße“ beginnt mit einer Operation. Schahrsad, eine junge Frau, ist von ihrer Mutter und deren Freundin ins Krankenhaus gebracht worden, damit dort ihre Jungfräulichkeit wiederhergestellt werde. Der Arzt, Fattah, führt die nicht sehr schwierige Operation mit sadistischer Verachtung aus, aber auch in einer gewissen Erregung. Er wird sich in Schahrsad verlieben, sie später vergewaltigen und dann heiraten wollen. Fattah ist außerdem Geheimdienstagent, verantwortlich für viele totgeschlagene Mädchen im berüchtigten Evin-Gefängnis, in dem schließlich auch Schahrsad eingekerkert wird. Dorthin gebracht hat sie Mustafa, ein junger Mann und Wärter dort, der sie ebenfalls heiraten will. Mustafa glaubt, seine Geliebte im Evin-Gefängnis vor Fattah in Sicherheit zu bringen. Eine, von allen Seiten aus betrachtet, paradoxe Vorstellung.
In einer eindringlichen Szene beschreibt Cheheltan, wie Schahrsads Onkel, der vom Land in die Stadt kommt, zum Gefängnis fährt, um sich ein Bild von dem möglichen Bräutigam zu machen. Von Mustafa, denn dass Fattah, der Hymenoplastiker, ebenfalls an diesem Ort unvorstellbarer Gewalt ein und aus geht, weiß niemand in der Familie. Im Evin-Gefängnis sieht der Onkel, wie eine Gruppe von Mädchen mit verbundenen Augen über den Hof geführt, eine Gruppe von Jungen, ebenfalls mit Augenbinden, in einen Bus verfrachtet werden. Was geht hier vor, fragt er sich, und als Mustafa den Raum betritt, meint er, einen dieser Jungen mit verbundenen Augen vor sich zu haben, „als hätte dieser bemerkt, dass der Onkel sich tatsächlich um sie sorgte“. Als er anfängt zu weinen, beginnt Mustafa seinerseits, sich Sorgen zu machen. Sie kommen aus parallelen, unverbundenden Welten, ahnungslos der eine, ohne inneren Bezug zu den eigenen Taten der andere.

 

 

Hinter Barrikaden

Cheheltan pflegt einen überaus ironischen Ton, einerseits. Andererseits schreckt er nicht davor zurück, blutige Folter, grausame Morde zu schildern. Und manchmal verfällt er in eine Art Märchen-Singsang, in dem eine lange vergangene Tradition aufscheint, von der nur die gewaltsamsten Elemente noch lebendig sind. Dass er das in Iran nicht veröffentlichen kann, liegt auf der Hand.

Wenn man ihn trifft, fragt man sich: Wie vorsichtig muss Cheheltan sein? Zu Hause, hier? Kann man alles schreiben, was er erzählt? „Ja, sagt er, das können Sie.“ 1998, als sich die Lage für Künstler und Intellektuelle in Iran schon einmal extrem verdüsterte, als eine schwarze Liste mit den Namen von weit mehr als hundert verfemten Dichtern die Runde machte und wiederholt Künstler ermordet wurden, hat Cheheltan sich in seinem Haus verbarrikadiert und nahm im Frühjahr 1999 die Gelegenheit eines Stipendiums des Internationalen Schriftstellerverbandes an, für zwei Jahre nach Italien zu gehen.

Ashkan, der heute behauptet, noch nie Angst um seinen Vater gehabt zu haben, hat damals, so erzählt es seine Mutter, selbst in Italien jede Tür abgeschlossen, bevor die Familie zu Bett ging. Shahla Cheheltan, die aus einer Familie von Militärs kommt, die unter dem Schah kämpften, ist die Einzige, die offen sagt, dass sie Angst hat. Dass sie sich nicht erinnern kann, jemals ohne Angst um die gelebt zu haben, die sie liebt.

 

 

Stimme des Einzelnen

Cheheltan hat offenbar irgendwann einmal den Entschluss gefasst, sich nicht der Furcht um sein Leben auszuliefern. Aber er hat Angst um sein Land. Er sei kein sehr hoffnungsvoller Mensch, fügt er hinzu, und wenn man seinen Roman liest, der einem die Luft abschnürt, weil es nirgendwo einen Ausgang gibt aus dieser Welt der übereinanderlagernden Wirklichkeiten, Verstellungen und Kostümierungen, scheint Optimismus auch nicht angebracht. Ist nicht die junge Scharsad, über die von allen Seiten verfügt wird, bis sie in einem Massengrab liegt, die einzig Unschuldige in diesem Buch? „Oh nein“, sagt Cheheltan, „die anderen hatten nur keine Möglichkeit, bessere Menschen zu werden. Eingeschlossen in einem Kreislauf, in dem sie ganz unten anfangen, müssen sie der Gesellschaft dienen, die ihnen erlaubt hat, etwas zu werden, auch wenn das, was sie werden konnten, Folterer ist oder Agent.“

Die Möglichkeit, etwas anderes als Folterer oder Agent zu werden, dafür lohnt es sich schon zu kämpfen. Oder zu schreiben. Cheheltan ist nicht Teil einer organisierten Bewegung. Seine Freiheit ist es, ohne innere Zensur öffentlich zu sagen, was zu sagen ist, sich nicht zu verstecken, nicht zu verstummen. Er ist ein Einzelner, das ist die Wahl, die er getroffen hat.

 

By : F.A.Z