Spannende Gespräche, aktuelle Themen – wie hier auf der Bühne des Weltempfangs während der Podiumsdiskussion "Stimmen des Schweigens": die iranische Autorin Fariba Vafi, der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan und Friedenspreisträger Navid Kermani (v.l.n.r)

Die Frankfurter Buchmesse 2015 lockte mehr als 275.000 Besucher an. Der DAAD war mit einem Messestand und einer Podiumsdiskussion über Grenzgänger sehr gefragt. Mehrere ehemalige Gäste des Berliner Künstlerprogramms des DAAD diskutierten über Freiheit, Sprache und die Herausforderungen der Gegenwart. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wurde zum Abschluss der Messe an den DAAD-Alumnus Dr. Navid Kermani verliehen.

Keinen Applaus. Darum bat Navid Kermani, habilitierter Orientalist und DAAD-Alumnus, die Gäste in der Frankfurter Paulskirche. Keinen Applaus wollte er für sich, nachdem ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen worden war. Der deutsch-iranische Schriftsteller bat die Besucher stattdessen um ein Gebet oder einen Wunsch für die vom „Islamischen Staat“ entführten Christen im syrischen Quaryatein. Kermani warb energisch dafür, die Auslegung des Islam nicht den Terroristen zu überlassen. Seit vielen Jahren gilt Kermani als eine der wichtigsten Stimmen Deutschlands im Bemühen um Toleranz, Offenheit und Freiheit. Wer vergessen habe, warum es Europa brauche, müsse nur in die ausgemergelten Gesichter der Flüchtlinge blicken, sagte Kermani in der Paulskirche. Für sie sei Europa immer noch eine Verheißung. An die Politik appellierte er, sich entschlossener diplomatisch und zivilgesellschaftlich für ein Ende des Kriegs in Syrien einzusetzen. „Je länger wir warten, desto weniger Möglichkeiten bleiben uns.“

Kermanis Rede markierte einen Höhepunkt der diesjährigen Frankfurter Buchmesse vom 14. bis 18. Oktober 2015, die sich politisch wie nie zeigte. Mit spannenden Diskussionen über Grenzen, Grenzgänger und Flucht im „Weltempfang“, 275.800 Besuchern sowie einem vielfältigen, wenn auch in Deutschland weitgehend unbekannten Gastland Indonesien, war die Buchmesse nach Aussage ihres Direktors Juergen Boos „die erfolgreichste, geschäftigste Messe seit Jahren“.

Bedrohte Schriftsteller, bedrohte Kreativität im Exil
Schon mit der Eröffnungsrede des britisch-indischen Autors Salman Rushdie stand die Messe ganz im Zeichen von Meinungsfreiheit, Freiheit und Sprache. Rushdie nannte die freie Zunge ein „universelles Prinzip“, das nicht verhandelbar sei: „Ohne die Freiheit der Sprache kann es keine anderen Freiheiten geben“, sagte der von einer Fatwa bedrohte Autor. Er betonte die Gefahr für Schriftsteller in vielen Ländern: „Die Literatur, die Kunst an sich, ist stark – die Schreiber sind schwach.“ Sie würden behindert, ihre Werke zensiert, sie selbst bedroht und sogar getötet.

Wie der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan in einer Podiumsdiskussion mit Navid Kermani und der iranischen Autorin Fariba Vafi im „Weltempfang“ der Buchmesse berichtete, ist es dennoch ein großer Schritt, das eigene Land zu verlassen. „Ich bin vielleicht altmodisch, aber ich bin sehr an meine Stadt, mein Haus, mein Bett gebunden“, sagte Cheheltan. Dafür müsse man viel aushalten, beispielsweise die willkürliche Zensur der iranischen Behörden. Cheheltan war im Jahr 2009 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und wird in Deutschland sehr geschätzt. Sein aktuelles Werk, „Der Kalligraph von Isfahan“, wurde vor einer persischen Version auf Deutsch bei C.H. Beck veröffentlicht. Viele Schriftsteller hätten den Iran verlassen, erzählte Cheheltan. Einige seien in eine Schreibkrise geraden: „Das Exil lähmt einen teilweise, nimmt einem die Fähigkeit zu schreiben. Das wirkt sich auf das Denken aus.“

Sprache als Ausgangspunkt für kulturelles Gedächtnis
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, sagte auch Professor András Masát, ungarischer Kulturwissenschaftler und Rektor der deutschsprachigen Andrássy Universität in Budapest. Sprache sei der Ausgangspunkt für ein kulturelles Gedächtnis. „Wenn man nicht mindestens eine andere Sprache kennt, bleibt man immer im gleichen Topf.“ Ursprünglich hatte der DAAD geplant, in der Podiumsdiskussion im „Weltempfang“ der Buchmesse über „Grenzgänge in Biografie und Bildung“ zu sprechen. Doch dann holte die Aktualität die Planungen ein: „Wir werden uns daher auch einem Thema widmen, das uns alle bewegt: den vielen Grenzübertritten hunderttausender Flüchtlinge im Moment“, sagte Dr. Michael Harms, Direktor der Abteilung Kommunikation beim DAAD, der die Veranstaltung moderierte. Die aus Frankfurt am Main stammende Schriftstellerin Gila Lustiger, die seit fast 30 Jahren Jahren in Paris lebt, plädierte dafür, Flüchtlinge nicht als akulturelle Menschen aus einem luftleeren Raum zu begreifen. „Sie haben eine Kultur, sie bringen eine Sprache mit. Das Wichtigste ist, dass man sie nicht als wertloses Menschenmaterial, sondern als Bereicherung begreift.“ Nach Nahrung, Decken und Unterkunft müssten Kindergärten, Schulen und Universitäten kommen.

Keine Grenzen in den Köpfen
Sie selbst habe es damals leicht gehabt, erinnerte sich in der Runde Veronika Strnisková. Sie hatte in der Slowakei eine Deutsche Auslandsschule besucht, bevor sie mit einem DAAD-Stipendium nach Deutschland zog. „Ich sprach ganz gut Deutsch, hatte ein deutsches Abitur und viel Unterstützung durch den DAAD.“ Dass das Ankommen ohne die deutsche Sprache ungleich schwieriger ist, machte die promovierte Juristin Strnisková ebenso deutlich, wie ihren grundsätzlich optimistischen Blick auf die Gegenwart: „Die junge Generation in Europa ist ohne Grenzen aufgewachsen. Für sie gibt es auch in den Köpfen keine Grenzen mehr.“ Als Weltbürger, mindestens als Europäer, begreift auch Gila Lustiger die junge Generation: „Die heute 20-Jährigen sind vernetzt, globalisiert, fahren ins Ausland. Sie definieren sich nicht mehr über Nationalität.“ Wie wichtig Sprache ist, zeige sich auch daran, dass sie meist zwei Fremdsprachen gut beherrschten. Michael Harms brachte es auf den Punkt: „Sprache spielt die entscheidende Rolle für Teilhabe und Partizipation.“

Performatives Schreiben
Die Erfahrung, wie schwierig es ist, in gewisser Weise sprachlos zu sein, kennt auch der indonesische Schriftsteller Afrizal Malna. Nach der Unabhängigkeitserklärung 1945 stand für die ehemalige niederländische Kolonie Indonesien die Suche nach einer Lingua franca im Zentrum: Das Javanische erschien zu komplex, das Niederländische zu belastet. So wurde die malaiische Sprache in der Variante „Bahasa Indonesia“ zur Nationalsprache der 17.000 Inseln. „Ich hatte immer das Gefühl, dass die Sprache nicht ganz richtig Fuß gefasst hat in meinem Körper“, erzählte Malna auf der Buchmesse. So erarbeitete die deutsche Schriftstellerin Ulrike Draesner jeweils zusammen mit einer Interlinearübersetzerin eine deutsche Version der Gedichte, die den sprachlichen Finessen Malnas und seinem Lauschen auf den Klang der Wörter folgt. Entstanden ist der Gedichtband „druckmaschine drittmensch“ in deutscher und indonesischer Sprache. Diese deutsche Sprachversion animierte wiederum den niederländischen Dichter und Literaturmittler Erik Lindner, ebenfalls ehemaliger Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, einige Gedichte Malnas in niederländischer Sprache zu veröffentlichen. Auf dem Podium im „Weltempfang“ trafen sich die beiden Sprachkünstler erstmals zur gemeinsamen Diskussion.

Früchte der Arbeit des Berliner Künstlerprogramms
Es sind Momente wie die Bekanntgaben des Literaturnobelpreises oder des Buchmesse-Gastlandes, in denen die Früchte der Arbeit des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und seiner Leiterin Katharina Narbutovič sichtbar werden: „Als wir Swetlana Alexijewitsch 2011 einluden, kannten sie vor allem die Slawisten – ansonsten ernteten wir ratlose Blicke“, erzählt Katharina Narbutovič. Frustrierend sei das nicht – im Gegenteil: „Wir wissen ja, auf welchem hohen Niveau wir arbeiten. Die Herausforderung aber ist, stets neu einen Weg zu finden, das deutsche Kulturpublikum für die Arbeit unserer Gäste zu sensibilisieren.“ Dass die weißrussische Schriftstellerin, die 2011/2012 in Berlin ihr Buch „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ fertigstellte, jetzt, nur drei Jahre später den Literaturnobelpreis erhält, stärke die Arbeit des BKP. „Es ist eine schöne Resonanz von außen für unsere Gäste und auf unser Gespür“, sagt Narbutovič. Nach Mario Vargas Llosa (2009), Imre Kertész (2002) und Gao Xingjian (2000) ist Swetlana Alexijewitsch die vierte Literaturnobelpreisträgerin unter den früheren Gästen des Berliner Künstlerprogramms. Fast alle Werke Alexijewitschs zeichnen ein Bild der Lebenswelt der Menschen in Weißrussland, Russland und der Ukraine durch Gespräche mit Zeitzeugen. Die Schwedische Akademie zeichnet die Schriftstellerin aus „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“.

Sarah Kanning (21. Oktober 2015)

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