Der Zirkel der Literaturliebhaber (Novel)
Description
Jeden Donnerstag kamen in das Elternhaus Cheheltans acht Gäste, um mit den Eltern und später auch ihm selbst über Literatur zu sprechen. Sie sprachen vorzugsweise über die klassische persische Literatur, über Rumi, Hafis, Saadi, Ferdowsi und andere. Über Jahre hielten diese Treffen an und eröffneten einen Raum der Sprache, der Poesie, der Interpretation, was die großen Themen des Lebens und des Geistes anbelangt, verbanden die Teilnehmer, verstrickten sie aber auch miteinander, weil die Staatsmacht auch in ihren Zirkel reinregierte.
Denn in diesem Zeitraum seit den sechziger Jahren herrscht erst der Schah mit seinem Repressionsapparat und dem Geheimdienst SAVAK, bis die islamische Revolution von 1979 das Regime durch die Macht der Mullahs ersetzt. In seiner dichten und detaillierten Erzählung kehrt Amir Hassan Cheheltan immer wieder zu dem Zirkel der Literaturliebhaber, den Gesprächen über die Poesie, der Rolle seiner Eltern, den Impulsen für die eigene Lektüre und der Wirkung der Literatur zurück. Denn diese ist älter, weiser, komischer, subversiver und sexuell weitaus freizügiger, als die offizielle Sittenlehre und die gesellschaftlichen Zwänge es dulden wollen.
Von Amir Hassan Cheheltan. Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.
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Reviews
Bruno Arich-Gerz zum „Zirkel der Literaturfreunde
01 April 2022Vor zwei Jahren erschien محفل عاشقان ادب in deutscher Übersetzung als Der Zirkel der Literaturfreunde. Daraus trägt Cheheltan in Düren vor, der Text hatte den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen, Berlin, erhalten und war wohlwollend besprochen worden. Die Rezensionen meckerten wenn, dann an der Verlagsentscheidung herum, Cheheltans Buch das Label ‚Roman‘ aufzukleben. Der Zirkel der Literaturfreunde ist tatsächlich mehr als (nur) eine erfundene Geschichte in Prosaform.
Inhaltlich geht es um ein coming of age im Iran vor und nach der Ablösung des Schah-Regimes durch das der Mullahs nach 1979. Ein erzählendes Ich ohne Namen, das biografisch viel von Cheheltan hat, inspiriert und entzündet sich an Diskussionen in einem wöchentlichen Literatursalon, zu dem sein Vater im häuslichen Gästezimmer einlädt. Der junge Mann beginnt selber zu lesen und erzählt von den tiefen Eindrücken, die die Klassiker der persischen Literatur bei ihm hinterlassen. „Die meisten Sufis waren Päderasten“ und „man kann das elfte Jahrhundert christlicher Zeitrechnung ohne Übertreibung als Epoche homophiler iranischer Dichter bezeichnen“, hält der Junge beeindruckt fest. Den Alten ist das zu viel aufgewirbelter Staub auf den Podesten der Hafis, Rumi oder Saadi, den er in ihren Augen „zu einem Zotenschreiber“ herabwürdigt. Unbeirrt erzählt der Junge eine Episode nach der anderen aus den Werken der Großschriftsteller nach: wie die Stegreif-short-stories in Boccaccios Decamerone wirken die und Cheheltans Text wird an diesen Stellen zu einem Lesebuch.
Nacherzählung, Lesebuch
Ein Roman im üblichen Sinn ist Der Zirkel der Literaturfreunde auch deswegen nicht, weil Chehaltan die Lektüreerfahrungen seines Alter Ego durch die Mühle der Literaturtheorie treibt. Die Kritik an dem Orientalismusgenannten Wissen über den Nahen Osten und seinen Kulturen, das ein wirkmächtiges und die imperialen kolonialen Projekte begleitendes europäisches Eigenfabrikat war, die Betonung offener Bedeutungs- und Sinnhorizonte des geschriebenen Worts oder der lange Nachhall von Literaten der Vergangenheit auf gegenwärtiges Lesen und Schreiben: Alles kommt zur Sprache. Cheheltans Erzähler hat nicht nur die Theorien des literarischen Textes rezipiert und entwickelt daraus seine höchst interessante und durchaus überraschende Philologie der persischen Literatur. Auch die Forscher, die über Hafis, Rumi, Saadi und andere geforscht haben, hat er gelesen und parat. Anderthalb Dutzend führt er namentlich an; bei so vielen Kronzeugen tritt zwangsläufig das literaturwissenschaftliche Traktat zum Lesebuch hinzu.
Forschungsbericht und literaturwissenschaftliche Studie
Unter den Gelehrten findet sich Ahmad Kasravi. Dem geht zu weit, wie sich der Okzident Persien und seine Literatur ungestört zusammenkonstruiert hat, und wie „iranische Akademiker“ ihm folgen: „sie seien der westlichen Sichtweise aufgesessen“. Kasravis Sorge gilt einer Kolonialisierung der Auslegung von Literatur durch eurozentrische Ansätze und Schablonen: ein durchaus gerechtfertigtes Anliegen, das nicht zu verwechseln ist mit dem platten heimatliterarischen Protektionismus der Altvorderen des Lesekreises.
Wenn damit auch der junge Literaturliebhaber zu den von Kasravi Angezählten zählt, verschafft das der Riege der Alten einen blindes-Huhn-findet-Korn-Treffer: „Sobald ich großspurig die Ansichten westlicher Literaturtheoretiker in die Waagschale warf, rümpfte die Runde herablassend die Nase“. Cheheltans Alter Ego rückt in die ambivalente, undankbare Position des in der Fremde, von Fremden gelehrten Ausverkäufers der genuin iranischen Literaturtraditionen. Etwas bleibt kleben an ihm: der Vorwurf des Verrats der etablierten Lektüre an einen Okzident, der als Hegemonialherrscher der Hermeneutik auftritt.
Was und wen liest er von diesem klebrigen Zeug? Roland Barthes und Julia Kristeva, die Carte postale von Jacques Derrida, J. Hillis Miller und die Rezeptionsästhetiker der 1970er Jahre, die zwischen dem Lesehorizont aus der Zeit der klassischen Dichter und dem der Gegenwart unterscheiden: „zwischen heute und damals bestand ein echter Konflikt, den mein Vater und seine Freunde nicht wahrnahmen und über den sie nichts wussten. Dass sich während der Lektüre eines alten Texts dessen Entstehungszeit und die Gegenwart überlagern, stritt die Diskussionsrunde ab“.
Für sich nimmt der Erzähler einiges an von den Theorien, anderes nicht. Die Mehrdeutigkeit des sprachlichen Zeichens ist ihm wichtig: „Mein Vater und seine Freunde waren der Meinung, im Masnavi habe jedes Wort eine verborgene, aber endgültige und einzige Bedeutung. Die zu erschließen, sei Aufgabe der Leserschaft. Meiner Ansicht nach hatte jedes Wort mehr als eine Bedeutung“. Als Probe auf Exempel erschließt sich ihm damit der Subtext von gleichgeschlechtlicher Liebe; alles hängt ab von der Auslegung eines einzigen Fürworts: „Die Hinweise auf Homosexualität in der klassischen persischen Literatur blieben deshalb so gut wie unentdeckt, weil im Persischen für die dritte Person nur ein Pronomen verwendet wird“.
Irgendwo redet er einer longue durée des geschriebenen Gemeinten das Wort, einem Essentialismus im komponierten Stück Literatur, dessen Überzeugungskraft letztlich doch nicht von den sich ändernden Horizonten der Leser:innen abhängt. „Meiner Überzeugung nach bezieht ein Werk seine Glaubwürdigkeit nicht aus dem, was Leser ihm entnehmen, sondern allein aus seiner Struktur und seiner inneren Logik“. Das mag mit einigem Wohlwollen klingen wie eine Variation auf das poststrukturalistische Diktum vom n’y a pas de hors texte. Als willentlich komponiertes Werk bringt es zugleich die Instanz des Autoren (und der Autorin) zurück ins Spiel beziehungsweise wiederbelebt sie nach der Todesanzeige, die ihr Roland Barthes ausgestellt hatte, oder der Abkehr von ihr im intertextuellen Ansatz Julia Kristevas.
Mit diesen Übernahmen und Abweisungen, die Abweichungen sind von der westlichen Literaturtheorie, wie sie zur Zeit der islamischen Revolution im Iran in Blüte stand, gewinnt das erzählende Alter Ego in Cheheltans Buch eine, seine Kontur. Er ist nicht nur Herausforderer einer Lektüretradition, mit ungeklärtem Status als einerseits querelenbewährter Moderner, andererseits Undercover-Agent im Auftrag eines (neo)kolonialen Literaturokzidents. Er ist auch ein Genießer der offenen Bedeutung, der die Mehrdeutigkeitsspender – die Autor:innen – nicht verabschiedet.
Und wenn diese Nichtverabschiedung von Cheheltan unterschrieben ist, weil sein ‚Roman’ auch ein Selbstzeugnis ist, haben wir es mit einem, seinem schriftstellerischen Programm zu tun.
Autobiografie und Poetik
Den ‚Tod des Autoren‘ macht Amir Hassan Cheheltan nicht mit. Auch das ist ein Bettenwechsel. Statt sie einzusargen, stehen die persischen Klassiker an der Wiege seines eigenen Schaffens.
Bruno Arich-Gerz
Der 2020 herausgekommene und preisgekrönte Roman des iranischen Schriftstellers "Der Zirkel der Literaturliebhaber" schildert Kindheit und Jugend des Autors in einem literaturbegeisterten Elternhaus in Teheran. Jeden Donnerstag traf sich dort eine Runde Frauen und Männer, die vor allem klassische persische Texte lasen und darüber diskutierten und das vor dem Hintergrund der großen Politik. Es werden Seiten dieser Texte deutlich, die weitgehend unbekannt sind. Sie sprechen z.B. Homosexualität an, tragen zum Teil pornografische Züge und betonen die große sexuelle Freizügigkeit, die im Persien der klassischen Zeit offensichtlich kein Tabuthema war.
Schlagwort: Der Zirkel der Literaturliebhaber
10 August 2020Wie leicht ist man versucht, beim Blick in den Nahen Osten, in den Orient, in den Iran nur den grau-braunen Schleier zu sehen, den die Medien, die Geschichte, die Zerstörung, die Kriege in den vergangenen Jahren über das Land legten. Allzu leicht beschränkt sich das Bild auf Figuren wie den Schah Reza Pahlavi oder den Ajatollah Chomeini, der nach dem Sturz des Diktators zehn Jahre iranisches Staatsoberhaupt war oder Mahmud Ahmadineschād, einer der fundamentalistischen Präsidenten, die in der Drohgebärde gegen den Westen, den Iran zu einem Atomstaat machten.
Dabei ist der Iran einer der Wiegen der Kultur, wie Marco Polo berichtete; das Paradies, in dem Milch, Honig, Wein und Wasser fliessen, üppig in Vegetation und Kultur, reich an irdischen und geistigen Schätzen.
Davon erzählt Amir Hassan Cheheltan in seinem neuen Roman „Der Zirkel der Literaturliebhaber“. Amir Hassan Cheheltan, der trotz seiner unverhohlenen Kritik an der iranischen Führung, der grassierenden Ungleichheit und der Bevormundung von SchriftstellerInnen, noch immer in Teheran lebt, schildert ein kleines Stück seiner eigenen Geschichte und ein grosses Stück der Geschichte seines Landes.
Über drei Jahrzehnte lang war das Gästezimmer in der Wohnung seiner fiktionalen Eltern Schauplatz wöchentlich stattfindender Literaturzirkel. Jeden Donnerstag besuchten die Cheheltans acht Gäste, um mit den Eltern und später auch mit dem älter werdenden Sohn über Literatur zu sprechen, Verse zu rezitieren, abzutauchen in die Jahrhunderte lange klassische, persische Literatur: Rumi, Haffs, Saadi, Ferdowsi, alles Namen, die wie Fixsterne am „persischen Literaturhimmel“ stehen und für mich (bislang noch) völlig unbekannt sind.
Mit den immer tiefgreifender werdenden Veränderungen in der iranischen Politik und Gesellschaft der Achtziger Jahre, nach dem Sturz von Schah Reza Pahlavi und der Machtergreifung der fundamentalistischen Ajatollahs wird der Zirkel im Gästezimmer der Familie immer mehr zu einer Insel, einem letzten Rückzugsort, der „Ruhe, Liebe und Frieden bot“. Aber selbst diese Insel ist nicht vor den langen Armen des Geheimdienstes SAVAK geschützt.
Amir Hassan Cheheltan erzählt am Beispiel dieses Zirkels, was mit der einst aufgeschlossenen Kultur nicht nur im 20. Jahrhundert passierte. Er leuchtet in eine Tradition, eine Literatur, die sich selbst im Vergleich zur europäischen um ein Vielfaches weiser, freizügiger, lustvoller, komischer, gar subversiver gab, auch der offiziellen Sittenlehre und den gesellschaftlichen Zwängen im eigenen Land gegenüber.
Amir Hassan Cheheltan erzählt, wer den Erzähler in die Welt der Fantasie, des Erzählens einführte, von einer Grossmutter, die ihn mitnahm, Fragen mit Geschichten beantwortete. Von Eltern, die die Revolution und ihre Folgen zu ignorieren versuchten, in der Hoffnung, sich so zu retten. Von einem Vater, der eigentlich nur die Literatur liebte und das Leben in der Familie über Jahrzehnte auf den Abend am Donnerstag ausrichtete. Von den Abenden in der Leidenschaft verinnerlichter Literatur. Davon, wie sehr die politisch immer enger werdenden Zustände im Land immer unvereinbarer werden mit dem, was die Literatur an Offenheit, Freiheit und Freude offenbart.
Wer „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ liest, spürt nach, was es heisst, in der Literatur der eigenen Kultur aufzugehen. Die dortige Kultur ist von Geschichten durchzogen, Geschichten ein Schatz, der von Generation zu Generation weitergetragen wird. Sie sind im Gegensatz zur westlichen Tradition weit mehr als bloss Unterhaltung oder Kunstwerk.
„Der Zirkel der Literaturliebhaber“ ist ein Tor zu einer anderen, fremden Welt. Amir Hassan Cheheltan sein mutiger Türöffner!
Amir Hassan Cheheltan und seine Übersetzerin Jutta Himmelreich erhielten den Internationalen Literaturpreis 2020 für „Der Zirkel der Literaturliebhaber“. Von Jurymitglied Verena Lueken heisst es in der Begründung:
„Dies ist ein Buch, das sich nicht von den Absteckungen der Zuschreibung ‚Roman‘ beeindrucken lässt. Ein Buch, das auf den Erinnerungen des Autors aufgebaut, also als autobiografisch im weiteren Sinn zu verstehen ist, ausser: dass der Autor seine eigene Jugend um 15 Jahre etwa verschoben hat, nämlich in die Zeit der Islamischen Revolution 1978, als er selbst bereits Anfang Zwanzig war. Im Zentrum steht die Literatur, vor allem die klassische persische, aber nicht ihre offizielle Lesart. Sondern ihre subversiven Strömungen, ihre homoerotischen, ihre pornografischen Anteile. Es ist also in mehrfacher Hinsicht ein doppelbödiges Buch, was sich auch in der Sprache spiegelt, die Jutta Himmelreich im Deutschen mal blumig, mal sarkastisch, mal völlig nüchtern übersetzt – eine Coming-of-Age-Story aus Teheran, ein literaturhistorisches Seminar, ein Nachfabulieren althergebrachter Erzählungen, eine Geschichte der historischen Umbrüche und Katastrophen, und das alles in einem Buch, das, wie alle Bücher Cheheltans der vergangenen Jahre, in seiner Originalsprache bis auf weiteres nicht erscheinen wird.“
Wie gefährlich ist Literatur?
01 August 2020Wie gefährlich ist Literatur?AMIR CHEHELTAN – DER ZIRKEL DER LITERATURLIEBHABER.
Der iranische Schriftsteller Amir Cheheltan hat soeben für seinen neuesten „Roman“ den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt bekommen. Völlig zu Recht, meint Guy Helminger.
Dieses Buch ent-zieht sich jeder Gattungsbe-stimmung. Es beschreibt das Heranwachsen eines Ich-Erzäh-lers im Teheran der letzten Schah-Jahre und wäh-rend der darauffolgenden Revolu-tionszeit und bildet so Strukturen einer Coming-of-Age-Geschichte ab. Darin fußt die Anlage zum Ro-man, dessen Gesamtheitsanspruch aber insofern zurückgenommen wird, als die Entwicklung der Hauptfigur einzig und allein in Bezug auf sein Verhältnis zur Li-teratur reflektiert wird. Zugleich evoziert das Erzählte deutlich Momente der Biografie des Au-tors, versetzt um etliche Jahre, denn der Protagonist ist viel jün-ger als Cheheltan. Historische Ge-schehnisse wiederum bilden einen geschichtlich nachprüfbaren Rah-men für die Fiktion, die über Kapi-tel hinweg ausgeblendet wird, um literaturtheoretische Exegese zu betreiben. Auf allen diesen Ebe-nen bleibt das Buch spannend. Und das liegt vor allem daran, dass der Autor zeigt, wie Literatur unmittelbar mit unserer Existenz liiert ist, das Geschriebene einer-seits aus dem Leben schöpft, um zu sein, sinnlich und sinnvoll, und andererseits wiederum auf das Le-ben einwirkt und es verändert. Diese Wechselwirkung ist der Mo-tor des „Zirkels der Literaturlieb-haber“. Jeden Donnerstag treffen sich einige Menschen im Hause der Eltern des Erzählers und spre-chen über Bücher, meist über die altpersischen Meister, Rumi et-wa oder Saadi, Ferdowsi ... Der junge Erzähler schnappt erst hie und da Fetzen der Gespräche auf und gehört irgendwann selbst zu diesem Kreis. Die Bücher be-einflussen seine Pubertät, seinen Reifeprozess, bestimmen seine Entwicklung. Dies geschieht weni-ger durch Erkenntnis, als vielmehr durch eine innere Befriedung, die sich einstellt, eine Art Versöhnung mit dem eigenen Sein. Allein das zeigt die Macht, die Literatur ha-ben kann. Zugleich werden diese Literaturtreffen den Mullahs ver-dächtig. Schriftsteller und Litera-turliebhaber werden als subversive Elemente angesehen, bedroht, ver-folgt, ja, hingerichtet. Und Chehel-tan zeigt auch, warum das Regime Angst vorm Wort hat. Anhand der altpersischen Literatur demonst-riert er geradezu literaturwissen-schaftlich, dass das Fundament persischer Kultur aus dem be-steht, wie Menschen lebten, und nicht aus Ideologie. Und zum Le-ben gehört beispielsweise auch Se-xualität, die Gier, der Hang zum Vulgären, die pure Lust, die das neue Regime auszumerzen sucht. Aber bei alten Meistern wird so-gar in den Gebetsnischen der Mo-schee kopuliert. Sie schrieben Verse, die einen Marquis de Sade hätten erröten lassen, wenn er sie gekannt hätte. Vor allem wird Ho-mosexualität in einer Art und Wei-se thematisiert, dass Cheheltan im Rückblick vom 11. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung als vom Jahrhundert der homophilen irani-schen Dichter sprechen kann.
Die Literatur als Kokon
15 July 2020Über Jahrzehnte traf sich im Haus des Schriftstellers Amir Hassan Cheheltan eine Runde aus Literaturliebhabern und debattierte klassische persische Werke – bis die Politik in den Kokon der Lesenden einbrach. Von Gerrit Wustmann
Einmal mehr nimmt der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan seine Leserinnen und Leser mit zu dem Bruchpunkt der Geschichte seines Landes, jenen Tagen, mit denen er sich schon in vielen seiner Romane, nicht zuletzt seiner gefeierten Teheran-Trilogie, beschäftigt hat: der Zeit der Islamischen Revolution im Jahr 1979.
Doch tatsächlich stehen die politischen Ereignisse diesmal nicht im Mittelpunkt, sondern die Literatur. Jeden Donnerstag traf sich im Gästezimmer der Cheheltans in deren Haus im wohlhabenden Teheraner Norden eine illustre Runde aus Autoren, Übersetzern, Lesern. Über Jahrzehnte hinweg, von den letzten Jahren der Schah-Ära bis zur Reformerperiode unter Mohammad Khatami, wurde dieser "Zirkel der Literaturliebhaber" (so der deutsche Titel, übersetzt von Jutta Himmelreich) zum Fixpunkt für Cheheltan – und auch zum Spiegel der iranischen Gesellschaft.
Ein essayistisches Werk, kein Roman
Eine Feststellung vorab: Der Verlag bezeichnet dieses Buch, wohl der besseren Verkäuflichkeit wegen, als "Roman". Das ist grob irreführend und erweist sowohl dem Autor als auch seinem Publikum einen Bärendienst. Denn es handelt sich um ein Sachbuch. Ein fundiertes essayistisches Werk über persische Literatur, verbunden mit persönlichen Erinnerungen des Autors. Wer einen Roman erwartet, wird zwangsläufig enttäuscht werden; wer hingegen auf der Suche nach einem Sachbuch zum Thema ist, wird Cheheltans verdienstvolles Buch womöglich übersehen. Eine verlegerische Entscheidung, die in keiner Weise nachvollziehbar ist.
Es ist – wieder einmal – ein Buch, das vorerst nur auf Deutsch erscheint. In Iran hätte es zweifellos keine Chance auf eine Publikationserlaubnis. Dabei ist die erwachende Sexualität des Teenagers nur das banalste von zahlreichen Tabuthemen, die Cheheltan sehr offen behandelt.
Darunter auch der kritische Umgang mit der von Konservativen bestimmten Stellung der Frau, die bei den Cheheltans durch einen Rollentausch demonstriert, wie weit die gelebte Realität von den Vorstellungen religiöser Hardliner entfernt ist: Cheheltans Mutter arbeitete als Lehrerin, während sein Vater zu Hause samt Schürze am Herd stand und die Familie bekochte – was er höchst gerne tat, wenn er sich nicht gerade seiner Lieblingsbeschäftigung widmete: dem Lesen.
"Der Westen sieht uns nur von außen"
Das Haus, so ahnt man, muss einer Bibliothek geglichen haben, und die donnerstäglichen stundenlangen Treffen der Literaturliebhaber waren der Höhepunkt jeder Woche. Das wurde dem kleinen Amir Hassan Cheheltan schon früh klar, dessen Neugier auch dadurch geweckt wurde, dass man ihn des Zimmers verwies, wenn Passagen klassischer Dichter debattiert wurden, die eher nicht für kindliche Ohren geeignet sind.
Mit umso größerem Vergnügen widmet sich Cheheltan daher später gerade dem Obszönen und Pornographischen bei Saadi, Rumi und vielen anderen. Elemente, die untrennbar sind von der persischen Literatur, die offiziell heute aber entweder ignoriert oder durch aberwitzige Interpretationen entschärft werden.
Aber auch mit dem Blick von außen geht Cheheltan ins Gericht: Mit den Unmengen an orientalistischen Werken, die jene Klassiker einem westlichen Publikum zu erklären versuchen, und er kommt zu der Erkenntnis, dass "der Westen uns nur von außen" sieht, "nicht von innen.
Seit drei Jahrhunderten versucht dieser, den Osten zu erklären. Gegenwärtig wird durch die sich zuspitzenden Krisen im Mittleren Osten und Phänomene wie die Taliban, Al-Qaida, und ISIS offenkundiger denn je, wie schlecht ihm das gelingt und wie wenig er über uns weiß." Das macht er durchaus schlüssig auch an historischen Beispielen fest, und es wird klar, dass das Reden über den Osten (anstatt mit ihm) das Hauptproblem ist.
Gerade in Bezug auf Rumi, der nicht nur in Iran, sondern weltweit einer der meistübersetzten und meistgelesenen Dichter ist, stellt sich Cheheltan aber generell der Interpretationswut entgegen und zitiert Passagen, in denen Rumi seine Stärke aus der klaren Sprache und aus sehr eindeutigen Bildern und Metaphern zieht, und verweist darauf, dass der Dichter seine Verse zu seinen Lebzeiten vor einfachen Menschen in der Öffentlichkeit vortrug, und dass eine verschlüsselte, verklausulierte Symbolsprache diesem Publikum den Zugang versperrt hätte.
Von den Ansätzen der Mystiker, in jedes Wort versteckte Bedeutungen hineinzulesen, hält er folglich wenig.
Fokus auf homoerotischer Lyrik
Große Aufmerksamkeit widmet Cheheltan der homoerotischen Lyrik, ohne die die klassische persische Literatur undenkbar ist: "Damals war homoerotische Liebe keine Schande. Und man kann das elfte christliche Jahrhundert ohne Übertreibung als Epoche homophiler iranischer Dichter bezeichnen", wofür er eine Vielzahl an Beispielen aufführt, die sich sehr ähnlich auch in der arabischen Literatur finden.
Susani Samarghandi etwa müsse, so Cheheltan, den Vergleich mit De Sade nicht scheuen. Homosexualität, heute tabuisiert und oft gar kriminalisiert, war in der islamischen Welt über Jahrhunderte gelebte Normalität. Der Wandel kam erst – und das thematisiert Cheheltan leider nicht – als Import der lustfeindlichen westlichen Eroberer in den Osten, die ihre verkorkste Sexualmoral mitbrachten.
Fast unmerklich bricht Stück für Stück die politische Realität in den Zirkel der Literaturliebhaber ein, der sich wie in einem Kokon, abgeschlossen von der Außenwelt, wähnt. Erst wird ein Spitzel des Schah-Geheimdienstes SAVAK in der Runde enttarnt, nach der Revolution dann kündigt Cheheltans Mutter ihren Job als Lehrerin, weil sie sonst gezwungen wäre, im Klassenzimmer Tschador zu tragen, und schließlich muss Cheheltan selbst für mehrere Jahre an die Front des Iran-Irak-Krieges.
Endgültig zerrissen wird die vermeintliche Idylle in den Neunzigern, als das neue Regime systematisch Todeslisten erstellt, auf denen die Namen von Schriftstellern und anderen Kulturschaffenden stehen, und diese dann ermorden lässt. "Die das vorantreiben, sind sich bis heute nicht im Klaren darüber, dass alles, was eine Regierung zu ihrem eigenen Nutzen politisiert, sich früher oder später auch politisch gegen sie richten wird", schließt Cheheltan aus dem Versuch des Regimes, die Kultur für sich zu vereinnahmen und kritische Stimmen auszuschalten.
Die iranische Geschichte der letzten hundert Jahre und insbesondere die Revolutionszeit und deren Auswirkungen hat Cheheltan in seinen Romanen, allen voran "Iranische Dämmerung", ausführlich behandelt. "Der Zirkel der Literaturliebhaber" hingegen ist vor allem eines: Eine Einladung, zu lesen und zu entdecken – und nicht zuletzt eine Tür, die den Zugang zu den großen zeitlosen Werken der persischen Dichtung öffnet.
Gerrit Wustmann
© Qantara.de 2020
Amir Hassan Cheheltan: "Der Zirkel der Literaturliebhaber", aus dem Persischen von Jutta Himmelreich, Verlag C.H. Beck 2020, 252 Seiten, ISBN: 978-3-406-75090-8
Heimsuchungen und Leidenschaften
01 July 2020Wer schreibt, provoziert. Mit diesem Diktum hat der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki pointiert die Gabe des Schriftstellers benannt. Amir Hassan Cheheltan, 1956 in Teheran geboren, hat einen außergewöhnlichen, provokativen und auch irritierenden Roman vorgelegt, der als aufklärerisch angesehen werden kann, als ein erzählerischer Gegenentwurf zur offiziellen Literaturgeschichte Persiens.
Im Verborgenen tagt – erst unter dem Schah-Regime, dann in den ersten Jahren nach der islamischen Revolution – ein Kreis von Liebhabern der Literatur, Menschen, die sich angeregt über literarische Werke austauschen, aber die darin enthaltene Sittenlosigkeit geistreich oder diskret umgehen – oder leugnen. Literarische Erkundungen können sehr ernüchternd sein, aber das hier entfaltete Panorama homosexueller Lustgefühle und Liebesakte kollidiert mit der eingeforderten religiösen Sittenstrenge und konterkariert jede pädagogische Absicht, die sowohl genusssüchtige Ausschweifungen als auch damit verbundene Abhängigkeitsverhältnisse unterbinden möchte.
Die Erotik in der persischen Literatur wird metaphorisch gedeutet. Überall in der Gesellschaft ist von Politik die Rede, im Verborgenen geht es um Befriedigung und Lustgewinn. Oder etwa nicht? Cheheltan erzählt in stilisierter Form von seiner Kindheit und Jugend, bekennt sich zur Literatur und beschreibt emphatisch seine Geschichte in einem einzigen Satz: „Ich bin zur Welt gekommen, habe eine Kindheit verbracht, mich in die Literatur verliebt und bin gestorben.“ An die literarischen Donnerstagsrunden im Elternhaus erinnert er sich: „Sie versetzen mich in mein ganz persönliches Paradies, das mir mein Liebstes beschert hat: die Freude an der Literatur.“ Einen „unvergleichlichen Genuss“ verschaffte die Literatur den Anwesenden. Der Gastgeber, Cheheltans Vater, „deklamierte in überschwänglichem Ton“. Den Lesungen und dem Gedankenaustausch folgten alkoholische Genüsse. Der junge Amir kommt in die Pubertät, die allenthalben öffentlich wie offiziell schweigsam ignoriert wird. Die „Geheimnisse der Zeugung und Fortpflanzung“ wecken pubertäre Neugier, im Koranunterricht wird mehr über Beten und Fasten gesprochen. Alles andere werde zu gegebener Zeit dargelegt. Im öffentlichen Leben herrschte mehr und mehr Aufruhr, auch darüber sollte nicht gesprochen werden.
Alles Politische wirkt bedrohlich. Das Regime des Schahs wankt, die allmächtige Geheimpolizei büßt ihre Macht ein. Nur die Literatur öffnet Horizonte. Der Erzähler berichtet ungeniert vom sexuellen Spiel mit sich selbst. Zwar nennt der fromme Lehrer das Wort „Masturbation“, ein Begriff, der eine Wirklichkeit bezeichnet, doch dies sei „geheimnisvoll, rätselhaft, mit Scham besetzt“: „Noch heute sehe ich die Augen unseres Lehrers diabolisch aufleuchten, wenn er das Wort gebrauchte und ihm so seine besondere, verbotene Bedeutung verlieh.“ Sexuelle Aufklärung findet nicht statt, nirgends: „Meine Neugier blieb ungestillt, das belastende Gefühl absoluter Einsamkeit stellte sich ein.“ An moralischen Unterweisungen mangelt es nicht. Amirs Vater, der die persische Sprache und Literatur liebt, fürchtet, dass diese Themen den Sohn überfordern könnten. Dieser entdeckt, dass die Literatur vor Themen überquillt, die „weit außerhalb der üblichen Auffassung von Anstand und Moral“ liegen. In den Straßen von Teheran herrscht mittlerweile die islamische Revolution. Amirs Vater ist angespannt, erregt, aufgewühlt. Nur beim Lesen ist er erfüllt von „tiefer Zufriedenheit“: „Solche Momente bescherten ihm die Gewissheit, dass die Literatur stärker ist als jede Revolution.“ Auf Dauer aber kann er sich, seine Familie und auch die Donnerstagsrunde nicht vor der Politik abschotten. Sein Sohn zieht in den Krieg gegen den Irak, steht aber im „Bann der Literatur“. Doch sind die Literaten und Philosophen nur „Ratgeber und Moralprediger“? Manche Texte öffnen „neue Fenster“. Amir beschreibt seinen Zugang:
Ich orientierte mich lieber am Ursprungstext, versuchte dessen Aussage zu erfassen, konnte aber weder zusätzliche Bedeutungen hinein- noch implizierte Bedeutungen herauslesen. Meine Maßstäbe waren vielmehr das Alltagsleben, der erste Eindruck, Gebote, Bedingungen, die dem unmittelbaren Textverständnis vielleicht entgegenstanden.
Die „moralische Deutung des Werks“ beachtet er nicht. Die Donnerstagsrunde indessen scheint an einem aufrichtigen Gespräch nicht interessiert zu sein, schon gar nicht, wenn „Meister der Obszönität“ ohne Wertung gelesen werden sollten. Der junge Leser vermag nicht, die Deutlichkeit sexueller Schilderungen auszublenden. Er liest, was er liest: „Ich wusste damals instinktiv, dass die Geschichten exakt das ausdrückten, was in ihnen geschrieben stand.“ In „mystischen Schriften“ gebe es oft eine „unverblümte Wortwahl“, die Amir – anders als der Lesekreis seines Vaters – nicht metaphorisch auffassen wollte.
Auch die homoerotische platonische Liebe sei, so der Autor, in der „iranischen Philosophie“ oft präsent. Die „Darstellung angeblich widerwärtiger, schäbiger oder makabrer Inhalte“ werde in der klassischen persischen Literatur nicht unterbunden: „Die Dichter konnten sich damals nicht einfach in den Dienst einer Sache wie allgemeinen Anstands stellen, den es damals vermutlich gar nicht gab. Sie sahen den Menschen so, wie er war, nicht so, wie er sein soll.“ In der heutzutage – und man kann dies nicht oft genug betonen: völlig zu Recht – weithin geächteten und strafbaren Praxis der Päderastie sahen einige Dichter und religiöse Mystiker unbegreiflicherweise nichts als die „Liebe zur Schönheit“: „Wer schöne Menschen liebte, lebte folglich nach Gottes Ethik.“ Cheheltan schreibt weiter: „Die Hinweise auf Homosexualität in der klassischen persischen Literatur blieben deshalb so gut wie unentdeckt, weil im Persischen für die dritte Person nur ein Pronomen verwendet wird. Spuren, die das Geschlecht der geliebten Person verraten, finden sich dennoch.“ Der Autor gibt ausführlich Beispiele dazu. Er fragt rhetorisch: „Wurzelt Liebe nicht im Wunsch nach Vergnügen, nach Freude, Genuss?“ Weiterhin heißt es: „Das Staunen über iranische Dichter und ihre Werke nimmt damit kein Ende.“ Die offizielle Exegese sei „Heuchelei“, die Literatur liefere das „gedankliche Modell für unser Zusammenleben über alle Epochen hinweg“. Blühten also der ungehemmte platonische Eros und die hellenistische Lebensart der Antike mit ihren sexuellen Eskapaden ebenso in Persien auf?
Von Strukturen der Macht und politischen Machtverhältnissen ist in dem Roman auch die Rede, doch an Missbrauch von Macht in sexuellen Abhängigkeitsverhältnissen scheinen die betrachteten Mystiker nicht gedacht zu haben, auch wenn dieser in den ausschweifenden Schilderungen homoerotischer Leidenschaften zu Jünglingen überdeutlich zutage tritt. Der Eros entfaltet sich nicht in der Freiheit zwischenmenschlicher Begegnungen unter Erwachsenen, im Gegenteil, es sind gefährliche Liebschaften aus vergangenen Epochen, in denen sichtbar wird, dass im Begehren des Liebhabers die begehrte Person Objektcharakter annimmt. Die Rezeption und kritische Reflexion literarischer Texte, so emphatisch diese Lustbarkeiten und Liebesverhältnisse jeglicher Art aus allen Zeiten und Kulturen auch anmuten mögen und geschildert werden, ist ein Desiderat der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung.
Ganz überraschende Einblicke in Formen der klassischen persischen Literatur bietet dieser Roman – und mahnt aus europäischer Perspektive dazu, entsprechende Texte in der hellenistischen Literatur und Philosophie neu zu lesen und die Rezeption dieser, etwa in der Weimarer Klassik, im George-Kreis und in der Reformpädagogik, kritisch zu überdenken. Amir Hassan Cheheltan zeigt weithin unbekannte Dimensionen der Literatur des Nahen Ostens. Sein Buch bietet so gesehen reichlich Diskussionsstoff.
Lesen gegen das System
28 June 2020Das Vorbild reicht zurück ins Mittelal-ter, aber als bürgerliche Einrichtung hatsich der Lesekreis erhalten. Er ist teilsgeselliges Treffen und teils Interessen-gemeinschaft: Freunde, die sich regel-mässig verabreden, um gemeinsam aus-gewählte literarische Stücke zu lesenund darüber zu debattieren. Ein solcherLesekreis wird im Titel von Amir Has-san Cheheltans Buch angekündigt: DerZirkel der Literaturliebhaber. Darinerzählt der Autor von einer Gruppe vonFreunden, die sich in Teheran überdreissig Jahre lang jeden Donnerstag-abend trifft und Werke der klassischenpersischen Literatur bespricht.
Cheheltan, der 1959 in Teheran gebo-ren wurde und nach einigen Jahren inEuropa wieder dort lebt, hat schon inseiner Teheraner Romantrilogie, diezwischen 2009 und 2012 in deutscherÜbersetzung erschien, die bewegte ira-nische Geschichte in der zweiten Hälftedes 20. Jahrhundert narrativ verdichtet –und sich damit gegen das System aufge-lehnt. Auch sein neues Buch hat einesubversive Dimension, die trotz man-cher übersetzerischer Ungeschicklich-keit (nicht Gästezimmer, sondern eherEmpfangszimmer muss der schönsteRaum im Haus heissen, in dem sich derLesekreis trifft) erkennbar wird.
Denn der Literaturkreis, der mehrerepolitische Systeme – Republik, CIA-Coup, Schah-Terror, islamische Revolu-tion –überdauert, nutzt die Beschäfti-gung mit der literarischen Tradition alsSchutzschild gegen die konflikthafteWirklichkeit. «Zwei Jahrzehnte nach derRevolution, überschattet von der dro-hend zum Schlag erhobenen Regie-rungskeule, hatte sich eine neue Ord-nung etabliert. Unsere Angst vor derbrutalen Lage draussen hatte unsereLeserunde zusätzlich darin bestärkt, inder Literatur unsere einzige Zuflucht zusehen.» Aber die Wirklichkeit drängtherein: Zuerst stellt sich heraus, dasseines der Mitglieder ein Informant ist;dann wird ein anderes ermordet; dieGastgeberin wird als Lehrerin entlassen,weil sie die Richtlinien der islamischenRegierung – sich selbst zu verhüllen undden Schülerinnen den Schleier aufzu-zwingen – nicht implementieren will.Dann erleidet der Gastgeber einen tödli-chen Herzinfarkt. Schliesslich wird dasschöne Teheraner Haus, in dem sich derLesekreis getroffen hat, verkauft.
In ständigem Wechsel zwischen Rück-und Vorblenden, zwischen Bericht undErzählung rekapituliert Cheheltan fünfJahrzehnte iranischer Geschichte undführt zugleich die Resilienzkraft derLiteratur, der klassischen persischenWerke, vor. «Diese Literatur beziehtihre grundsätzliche Bedeutung aus dereindeutig bewiesenen Offenheit, mit dersie Zeugnis ablegt von der historischenExistenz der Iranerinnen und Iraner.»Allerdings entlarvt Cheheltan die persi-schen Klassiker allesamt als homoeroti-sche Dichter und zitiert und paraphra-siert seitenlang geradezu pornografi-sche Passagen. Diese langen Zitate undParaphrasen sowie die gehäuften sekun-därliterarischen Hinweise verhindern,dass sich ein Erzählfluss einstellt. Auchden Figuren, den Mitgliedern des Lese-kreises, fehlt die fiktionale Kraft. Aberdie Intention des Autors scheint sowiesoeher literaturpolitisch zu sein: Indem erdie Klassiker von der islamischen Moralder Gegenwart befreit, will er die Verlo-genheit der religiösen Machthaber auf-decken. Tatsächlich ist sein Buch in Irannicht erschienen. So ist die deutschspra-chige Veröffentlichung mehr eine kul-turpolitische als eine literarische Hand-lung. l
Rettung durch die Literatur
21 June 2020Amir Hassan Cheheltan erschafft mithilfe der Kunst in „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ einen sicheren Rückzugsort in Zeiten von Krieg und Krise.
In Amir Hassan Cheheltans Roman „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ gibt es zwei Welten: die bedrohliche draußen, in der die Politik dominiert; und die innere, die die Eltern des Ich-Erzählers jeden Donnerstagabend zelebrieren, wenn sie Gäste empfangen, Köstlichkeiten reichen und über Literatur plaudern. Lang gelingt es, die Politik auszusperren. Das ändert sich mit der Revolution. Ab dann wird sie zum einzigen Thema.
Als Junge fühlt sich der Erzähler an diesem behüteten Ort fremd, denkt sogar, seine Eltern könnten ihn adoptiert haben. Doch auch für ihn wird die Fantasie zum Rückzugsort. Die Großmutter erzählt ihm Fabeln von dem Affen, der sein trauriges Herz zu Hause lässt, wenn er Freunde besucht, um die anderen nicht zu betrüben. Das zu Hause gelassene Herz ist ein Trick, um zu überleben. Eine Metapher für die Lage der Menschen, deren Überleben nur mit List, Lug und Trug möglich ist.
Über weite Strecken liest sich der Roman wie ein Essay oder eine Vorlesung über klassische persische Literatur, doch die Schilderungen des Umsturzes und der darauffolgenden Gewalt sind dicht und mitreißend. Wenn etwa der Vater des jungen Mannes die Leute warnt, sich nicht von Gefühlen und rebellischem Eifer hinwegfegen zu lassen, sondern die Lage mit Vernunft und Verstand zu beurteilen, ist er zudem erstaunlich aktuell. Nicht umsonst war Cheheltan im „Ausnahmejahr 2020“ einer der sechs Gewinner des Internationalen Literaturpreises.
Amir Hassan Cheheltan: „Der Zirkel der Literaturliebhaber“, übersetzt von Jutta Himmelreich, C. H. Beck, 252 Seiten, 23,90 Euro
Der Zirkel der Literaturliebhaber
20 June 2020Der Autor erzählt, wie die in seinem Elternhaus in Teheran ein- und ausgehenden Literaten seine Liebe zur klassischen persischen Literatur weckten. Immer donnerstags trafen sie sich in einem besonders sorgfältig eingerichteten Gästezimmer, Der Zirkel der Literaturliebhaberum die Werke zu rezitieren und sich darüber auszutauschen. Parallel dazu wird auf die politische Situation Bezug genommen. In den Armenvierteln des Südens gibt es Unruhen gegen den Schah, die zum Massaker von 1978 führen, bei dem zahllose Demonstranten getötet werden. Mehr und mehr wird der Donnerstagskreis zum Zufluchtsort vor der Wirklichkeit. Mit seinem 15. Geburtstag darf auch Cheheltan daran teilnehmen. Den Pubertierenden fasziniert, dass die Literatur nur so strotzt von Themen außerhalb der üblichen Auffassung von Anstand und Moral. Er fragt sich, wieso in den Schulbüchern nur die strenge, düstere Seite der klassischen persischen Literatur gezeigt wird und nicht auch deren witzige, farbenfrohe. - Ein faszinierendes Buch, bei dem man viel über die persische Literatur erfährt, die neben den Geschichten über Gehorsam und Unterordnung auch von Verschwörungen gegen die Tyrannen erzählen und die gespickt sind mit (subtil versteckter) homophiler Erotik.
Lesezeichen in Zeiten von Corona
15 June 2020Melanie und Petra werden euch in Zeiten wie diesen solange mit kurzen Buchtipps auf dem Laufenden halten, bis auch in den Bibliotheken wieder etwas mehr Normalität einkehrt. Diese Woche mit dabei: "Daer Zirkel der Literaturliebhaber" | Amir Hassan Cheheltan, "Die kleine Ärztin und das furchtlose Tier" | Sophie Gilmore, "Marvel 5-Minuten-Geschichten" | Hörbuch von Marvel.
Hier zum Nachsehen LINK
Die Literaturagenten
mit Thomas Böhm und Marie Kaiser
Das Bücher-Magazin
Literaturagenten verdienen gemeinhin damit Geld, dass sie wissen, welche Bücher zu welchen Verlagen passen. Die Literaturagenten auf radioeins wissen, welche Bücher der geneigte radioeins-Hörer liebt, liest und lesen lässt.
Jeden Sonntag stellen sie die spannendsten Bücher der Woche vor. Auf ganz unterschiedliche Weise. Sie streiten sich über ein Buch, das der eine mag und der andere nicht. Sie sprechen mit Autoren über deren Bücher oder treffen sich mit ihnen an besonderen Orten oder machen sie gleich selbst zu Kritikern – Gregor Sander, Pieke Biermann, Flix, Annett Gröschner und Jakob Hein empfehlen im Wechsel Bücher ihrer Kollegen.
Doch damit nicht genug. Jede Woche setzen die Literaturagenten zwanzig Bücher in Berlin und Brandenburg aus. In allen steht ein Datum, eine Uhrzeit, eine Telefonnummer und eine Parole. Wer zuerst mit der richtigen Parole anruft, gewinnt ein Paket mit allen Büchern aus der Show.
Der Zirkel der Literaturliebhaber - Internationalen Literaturpreis des Haus‘ der Kulturen
04 June 2020„Der Zirkel der Literaturliebhaber“ heißt der Roman des iranischen Autors Amir Hassan Cheheltan, der in diesem Jahr mit dem Internationalen Literaturpreis des Haus‘ der Kulturen der Welt ausgezeichnet wird. radioeins-Literaturagent Thomas Böhm hat den Roman gelesen und dabei eine Entdeckungsreise in die persische Literatur gemacht.
Jurykommentar auf Der Zirkel der Literaturliebhaber - Internationaler Literaturpreis HKW 2020
04 June 2020Dies ist ein Buch, das sich nicht von den Absteckungen der Zuschreibung „Roman“ beeindrucken lässt. Ein Buch, das auf den Erinnerungen des Autors aufgebaut, also als autobiografisch im weiteren Sinn zu verstehen ist, außer: dass der Autor seine eigene Jugend um 15 Jahre etwa verschoben hat, nämlich in die Zeit der Islamischen Revolution 1978, als er selbst bereits Anfang Zwanzig war. Im Zentrum steht die Literatur, vor allem die klassische persische, aber nicht ihre offizielle Lesart. Sondern ihre subversiven Strömungen, ihre homoerotischen, ihre pornografischen Anteile. Es ist also in mehrfacher Hinsicht ein doppelbödiges Buch, was sich auch in der Sprache spiegelt, die Jutta Himmelreich im Deutschen mal blumig, mal sarkastisch, mal völlig nüchtern übersetzt – eine Coming-of-Age-Story aus Teheran, ein literaturhistorisches Seminar, ein Nachfabulieren althergebrachter Erzählungen, eine Geschichte der historischen Umbrüche und Katastrophen, und das alles in einem Buch, das, wie alle Bücher Cheheltans der vergangenen Jahre, in seiner Originalsprache bis auf Weiteres nicht erscheinen wird.
— Verena Lueken, Jury
Gab es je so etwas wie allgemeinen Anstand?
19 May 2020Amir Hassan Cheheltans Roman "Der Zirkel der Literaturliebhaber" hält Iran den Dichterspiegel vor
Amir Hassan Cheheltan hat einen neuen Roman geschrieben, aber hat er das wirklich? Auf dem Cover seines Buches steht "Roman", auf der Rückseite jedoch heißt es, er, also Amir Hassan Cheheltan, habe ein Buch über jenen Literaturzirkel geschrieben, der jeden Donnerstag im Haus seiner Eltern zusammenkam, um mit ihnen und später mit ihm selbst über klassische persische Literatur zu sprechen. Ein Roman über sein Elternhaus? Auch der Ich-Erzähler des Buches schafft keine Klarheit. An einer Stelle erzählt er eine Fabel nach, die ihn als Kind sehr beeindruckte, und schließt mit den Worten: "Soweit ich weiß, habe ich in der Literatur seitdem ein probates Mittel gesehen, um meiner Erinnerung auf die Sprünge und mir dabei zu helfen, Ordnung in meine Erinnerungen zu bringen."
So geraten die beiden Sphären in Cheheltans Buch durcheinander. Was auch immer das Buch aber erzählt, ob autobiographische Episoden aus dem Leben des Autors oder fiktionale Erinnerungen seines Alter Egos, der Text lässt keinen Zweifel daran, dass sein Inhalt genau diese hybride Form annehmen musste. Amir Hassan Cheheltan wurde die Literatur in die Wiege gelegt. Sein Vater interessierte sich für nichts so sehr wie für das Lesen. Seine Mutter verfluchte die Donnerstagsrunden zwar, weil sie fand, ihr Mann zwinge mit ihnen der ganzen Familie seine Leidenschaft auf. Doch sie erfüllte ihre Rolle als geistreiche Gastgeberin so gut, dass man annehmen darf, sie hat sie nicht nur gespielt. Die Donnerstage strukturieren die Wochen. Die Monate, Jahre, ein ganzes Leben.
Da ist es nur folgerichtig, dass der Erzähler seine Erinnerungen von Beginn an mit literarischen Texten durchsetzt, die ihn besonders prägten. Als Kind sind es Tierfabeln und die Geschichten der Großmutter. Später, als er an der Schwelle zur Pubertät steht und zufällig seine nackte Mutter im Badezimmer erblickt, sind es Geschichten aus der altpersischen Literatur, etwa das "Königsbuch" des Dichters Ferdosi, die von Beziehungen zwischen Söhnen und Müttern handeln. Schließlich vertieft er sich als junger Mann in jene "Stellen", die in zahlreichen klassischen Werken von Liebe und Sexualität erzählen, vor allem unter Männern. Ein eigenes Kapitel widmet er in diesem Sinn dem Werk des Dichters Saadi. Ein anderes beugt sich über den Dichter Rumi. Weitere untersuchen "Den geliebten Mann" und "Die Sache mit des Geliebten Bart". Sein eigenes Leben, aus dem der Erzähler bis dahin genauso häufig berichtete wie von seinen Lektüreerlebnissen, tritt nun völlig in den Hintergrund.
Dass sich das Buch in diesen Teilen noch viel weniger wie ein Roman, sondern mehr wie eine literaturhistorische Abhandlung liest, ist rasch verziehen. Die Bandbreite der zugrundeliegenden Quell- und Sekundärliteratur ist beachtlich. Und die obsessive Auseinandersetzung des Erzählers mit den homoerotischen, teils obszönen, auch pornographischen Passagen ist gut begründet. Wie kann es sein, fragt er sich, dass in einem Land, das seine alten Dichter so flächendeckend verehrt ("Nicht umsonst staunen europäische Experten über die hohe Wertschätzung, die wir unseren Dichtergrößen entgegenbringen"), über all diese Stellen der Mantel des Schweigens gehüllt wird? Und zwar nicht nur von konservativen Kräften, Religionsgelehrten, Koranlehrern, die um Begriffe wie "Masturbation" einen weiten Bogen machen. Sondern auch vom Vater des Erzählers, der sich doch als großer Literaturkenner geriert. Die Lesart des jun gen Amir Hassan Chehaltan unterscheidet sich von beiden, seine Zweifel richten sich gegen äußere und innere Autoritäten. Seine Emanzipation ist gründlich. Nach seinen Lektüreerlebnissen zu urteilen, wimmelt es in der persischen Dichtung von Ferdosi, Saadi, Rumi und Hafis von Darstellungen männlicher Sexualität. Es geht um Analverkehr und Vergewaltigung, Liebe und Eifersucht, Rache und Vergebung. Cheheltan sieht in den Geschichten die lockere, humorvolle, irdische Seite dieser Literatur, was angesichts der Jugend manches geliebten Dieners und Sklaven seltsam anmuten mag, der inneren Logik seiner Argumentation aber zuträglich ist. Cheheltan plädiert für eine strikt textimmanente Analyse der alten Dichter. Er will sie auch beim anstößigen Wort nehmen. Davon verspricht er sich nicht nur literarischen, sondern gesellschaftlichen, womöglich gar politischen Gewinn. "Die Darstellung der gleichgeschlechtlichen Liebe, als über mehrere Jahrhunderte hinweg allgemein verbreitetes Verhalten, . . . konfrontiert den Iran mit einer Erkenntnis." Wenn sich schon die allseits verehrten Dichter nicht in den Dienst "einer Sache wie allgemeinen Anstand" stellten, dann vielleicht deshalb, weil es so etwas noch nie gab? "Sie sahen den Menschen so, wie er war, nicht so, wie er sein soll."
Für Cheheltan lieferte die Offenheit der alten Literatur Iran jahrhundertelang ein Modell des Zusammenlebens. Ihm stellt er die nicht nur gedanklich immer enger werdende Bewegungsfreiheit seiner eigenen Erinnerungen entgegen. Irgendwann gelingt es selbst dem donnerstäglichen Literaturzirkel nicht mehr, seine Mitglieder wenigstens für einige Stunden vor den Zumutungen der Außenwelt abzuschirmen. Schon zu Zeiten des Schahs hatte sich ein "Savaki", einGeheimdienstspitzel in die Runde schleichen können. Nach der Revolution, dem acht Jahre dauernden Krieg gegen den Irak und der auf ihn folgenden Ermordungswelle politischer Gefangener dringt die neue Ordnung mit weit größerer Macht durch die Ritzen des alten Elternhauses bis hinein in das Leben all seiner Bewohner und Gäste.
Nicht alle überleben das. Weder in diesem noch in anderen literarischen Kreisen des Landes. Was bleibt, ist Cheheltans trauriger Abgesang auf die Lebensart eines emigrierten oder vernichteten Bürgertums. Und ein kluger Lobgesang auf das, was diese Lebensart an Bildung, Empathie und Phantasie zu vermitteln vermochte. Kaum überraschend, dass auch dieses.
Buch Cheheltans in Iran nicht erscheinen darf.
LENA BOPP
Amir Hassan Cheheltan: "Der Zirkel der Literaturliebhaber".
Roman.
Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.
Verlag C.H. Beck, München 2020. 252 S., geb., 23,- [Euro].
Amir Hassan Cheheltans neues Buch beschreibt ironisch und kunstvoll die Verrohung der Menschen in einem unmenschlichen System.
Teheran - In einer geschlossenen Wohnung zu sitzen, die Fenster verriegelt, damit man nicht sehen und berichten kann, was auf den Straßen passiert: Mit diesem Bild hat Amir Hassan Cheheltan nicht den Umgang Irans mit der Corona-Krise, sondern vor einigen Jahren die Situation der Schriftsteller im Land beschrieben.
Wer im Gottesstaat ein Buch publizieren will, muss durch die Zensur, die das Ministerium für Kultur und islamische Führung streng überwacht. Mit dem wirklichen Leben, so Cheheltan, hätten in Iran veröffentlichte Texte daher wenig zu tun. Die Darstellung von Sexualität, Gewalt oder Politik sei tabu.
Darstellung von Sexualität, Gewalt oder Politik tabu
Cheheltan, der seit 1976 schreibt, lebte mehrere Jahre in Italien, den USA und Berlin und wohnt nun wieder in seiner trotz allem geliebten Heimatstadt Teheran. Er braucht die Anonymität der Megacity, in deren Metropolregion geschätzt bis zu 20 Millionen Menschen leben. Menschen, deren soziale, wirtschaftliche, politische Zwänge und Abgründe Cheheltan genauestens beobachtet.
So entstehen Sittenbilder der iranischen Gesellschaft, die eines Balzac würdig sind, in Iran aber nicht gedruckt werden. Internationale Berühmtheit erlangte der Autor 2009, als im P.-Kirchheim-Verlag „Teheran, Revolutionsstraße“ erschien, als Weltpremiere in deutscher Übersetzung.
Ein rücksichtsloser Teheraner Arzt, der ohne Medizinstudium durch das Zusammennähen von Jungfernhäutchen zu Wohlstand gekommen ist, und der junge Wärter eines Gefängnisses wollen dasselbe Mädchen heiraten. Doch das Mädchen verendet tragisch im Folterknast. Darin hatte der Scherge des Regimes, welch ein Wahnsinn, seine Liebe vorm Zugriff des Konkurrenten schützen wollen. „Was spielte es schon für eine Rolle, wie die Menschen starben“, heißt es, „wenn es unwichtig war, wie sie lebten.“
Ironisch und kunstvoll über Verrohung von Menschen
Der Autor schildert, unbestechlich, ironisch und kunstvoll, die Verrohung der Menschen in einem unmenschlichen System. Einer der essenziellen Romane des 21. Jahrhunderts.
In einem geschlossenen Zimmer begegnen uns auch die Protagonisten seines neuen Buches, das wie die letzten Romane Cheheltans bei C.H. Beck als Erst- und Originalausgabe erscheint. „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ trifft sich jeden Donnerstag im Gästezimmer der Eltern des Erzählers, der kein anderer ist als der Autor selbst.
Die politischen Systeme wechseln, von der repressiven Herrschaft des Schahs mit seinem vor Mord nicht zurückschreckendem Geheimdienst bis zur Diktatur der Mullahs, die das gesamte öffentliche Leben beschränken, deren Gefängnisse und Todestrakte voll sind.
Erotik gegen Lustfeindlichkeit der Mullahs
Die persische Literatur, über deren Goldenes Zeitalter (1250–1350) uns Cheheltan so spannend wie kundig unterrichtet, hielt nicht nur Goethe für einen Höhepunkt der Weltliteratur. Der Zirkel – hauptsächlich Männer, auch drei Frauen gehören dazu – liest die großen Werke von Saadi, Rumi und Hafis, auch das persische Nationalepos „Schahname“ des Ferdosi (um 1000 n. Chr.).
Neben der höchstentwickelten persischen Sprachkunst ist die Erotik ein Hauptthema, denn viele klassische Werke sind voll expliziter Darstellungen hetero- und homoerotischer Liebe – ein größerer Gegensatz zur Lustfeindlichkeit der Mullahs ist nicht vorstellbar. Zwischendurch erzählt Cheheltan Geschichten aus dem Leben seiner Großmutter, der ersten studierten Hebamme Teherans, und seiner Mutter, einer Mathematiklehrerin.
Als diese nach der islamischen Revolution Schleier tragen muss und ihren Beruf verliert, als die ersten Frauen von Sittenwächtern öffentlich zusammengeschlagen werden und Kulturschaffende verschwinden, beginnt die Katastrophe. Ein Spitzel in der Runde der Freunde, der bereits der Geheimpolizei des Schahs diente, liefert nun Informationen an das neue Regime. Der Zirkel der Literaturliebhaber endet mit der Ermordung eines seiner Mitglieder.
Dichtung als Zufluchtsort vor blutiger Geschichte
Oft stritt der Erzähler mit seinem Vater darüber, dass man die historische Distanz aufheben und die Worte der Klassiker in die Gegenwart übertragen müsse. Für den Vater war die Dichtung zeitlebens ein Zufluchtsort vor der blutigen Geschichte seiner Heimat gewesen. Der Alltag der Menschen, dessen Schilderung in Iran per se ein Politikum ist, blieb ausgesperrt. Dagegen hatte der Sohn, hatte Cheheltan protestiert.
So sind seine Romane zu lesen, auch wenn das neue Buch sehr melancholisch ins „Paradies Literatur“ blickt. Vor einigen Tagen meldete sich Cheheltan jedoch aus der Quarantäne. Dort, so schrieb er der FAZ, seile seine Frau den Müllentsorgern regelmäßig Schutzmasken und Gummihandschuhe herab, lege belegte Brote dazu, die die minderjährigen Jungs genussvoll verspeisten.
Erinnerung an die Donnerstage bei seiner Familie im Iran, bei den Gästen und den Büchern.
Das ist ein wunderbar zartes Buch, obwohl es viel Kraft hat. Obwohl es sagt, wie gefährlich Literatur für die Mächtigen sein kann und wie man mit einem Buch in der Hand in den Widerstand geht (und einen Zufluchtsort hat).
Leserunde
Amir Hassan Cheheltan (Foto oben) lebt in Teheran. Zeitweise war er im Exil, zeitweise lehnt die Zensur im Iran seine Romane ab. Seine Erinnerungen an die Donnerstage seiner Kindheit sind einerseits ein Eintauchen in die klassische persische Literatur: Regelmäßig kamen acht Gäste ins Elternhaus, um Saadi, Rumi, Hafis ... zu diskutieren. Vor Jahrhunderten geschrieben, ist ihr Werk subversiv, komisch, sexuell freizügig – Rumis Gedicht von der Magd und dem Esel ist ein unvergessliches Beispiel.
Andererseits erzählt Cheheltan von den Spionen des Schahs auch in der kleinsten Versammlung; und von der islamischen Revolution. Die Donnerstagsrunde war Stütze der Familie. Aber aufregend. Sie endete mit dem Herzinfarkt des Vaters.
Amir Hassan
Cheheltan:
„Der Zirkel der
Literaturliebhaber“
Übersetzt von
Jutta Himmelreich.
Verlag C.H.Beck.
252 Seiten.
23,70 Euro
View Review On kurier
Literaturtipp: "Der Zirkel der Literaturliebhaber"
06 April 2020Amir Hassan Cheheltan, 1956 in Teheran geboren, zählt zu den bekanntesten iranischen Schriftstellern und er ist ein entschiedener Kritiker der iranischen Politik. Über die Zustände in seinem Land schreibt er regelmäßig in großen deutschen Zeitungen. Wegen der Bedrohung durch das iranische Regime lebte er längere Zeit im Exil. Cheheltan hat eine Reihe von Romanen und Erzählbänden veröffentlicht, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. In seiner Heimat sind seine Bücher teilweise verboten. In seinem neuen Roman "Der Zirkel der Literaturliebhaber" blickt er zurück auf die eigene Jugend. Holger Heimann hat das Buch gelesen.
BUCHKRITIK / Der Zirkel der Literaturliebhaber
31 March 2020Amir Hassan Cheheltan erlebte die Iranische Revolution als junger Mann. In "Zirkel der Literaturliebhaber" blickt er zurück auf die eigene Kindheit und Jugend. Rezension von Holger Heimann. Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich Verlag C. H. Beck ISBN 978-3-406-75090-8 252 Seiten 23 Euro
Sendung vom
Di, 7.4.2020 15:55 Uhr, SWR2 Lesenswert Kritik, SWR2
"Der Zirkel der Literaturliebhaber"
27 March 2020Im Iran, wo das Virus am stärksten im Nahen Osten wütet, ist die Bevölkerung nach jahrzehntelanger Unterdrückung misstrauisch geworden. Zu Recht, wird aus der Lektüre des Buches von Amir Hassan Cheheltan deutlich. Der Autor macht darin die zerstörerischen Mechanismen der iranischen Herrschenden gegenüber der Bevölkerung deutlich. Gleichzeitig zeigt er die befreiende Wirkung der Literatur gerade in bedrängten Zeiten.
Ein Denkmal für die befreiende Kraft der Literatur
25 March 2020Jeden Donnerstag kamen in das Elternhaus Cheheltans acht Gäste, um mit den Eltern und später auch ihm selbst über Literatur zu sprechen. Daraus ist ein Roman entstanden. (C.H.Beck)
Das Schah-Regime, die Diktatur der Mullahs und der Krieg gegen den Irak: Eine Zuflucht aus dieser feindlichen Außenwelt findet der junge Iraner Amir in der Literatur. Sie ist sein Paradies und sein Weg zur intellektuellen Emanzipation.
Der gelernte Elektriker Amir Hassan Cheheltan, 1956 in Teheran geboren, ist mit seinen fünf bislang in Deutschland erschienen Werken zu einem der wichtigsten literarischen Interpreten der politischen und sozialen Widersprüche des Iran seit der Revolution von 1979 geworden. In „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ verarbeitet er nun zum ersten Mal seine eigene Familiengeschichte.
Cheheltans jüngstes Werk ist ein Bildungsroman, in dem er selbst die Hauptrolle spielt. Jeden Donnerstag treffen sich im Teheraner Haus seiner Eltern acht Freunde zu einem Literaturzirkel. Diese Tage „versetzen mich in mein ganz persönliches Paradies, das mir mein liebstes beschert hat: die Freude an der Literatur“, beschreibt der junge Amir das Initiationserlebnis seiner Jugend im Rückblick.
Verpackt hat Cheheltan das Ganze in einen Coming-of-Age-Roman. Amir erblickt zum ersten Mal die Scham seiner Mutter, gewöhnt sich an die „Sünde“ des Masturbierens, später zieht er als Soldat in den Krieg gegen den Irak. Seine Adoleszenz gibt den Rahmen ab, in dem Cheheltan eine doppelbödige Poetologie entwickelt.
Deren einer Teil ist das Motiv des Eskapismus. In der Welt draußen toben die Aufstände im Iran, das Schah-Regime wird von der Diktatur der Mullahs abgelöst, ständig sterben Unschuldige. Frieden und Liebe findet der Zirkel nur auf seiner „kleinen, abgeschiedenen Insel“.
Literatur gegen Orthodoxie
In dem Gästezimmer mit dem perlenbestickten Kanapee sitzt die „Zufluchtsrunde“ und diskutiert über Mevlana Rumis Poem „Masnavi“ oder Ferdosis Nationalepos „Buch der Könige“.
Dem Motiv des Rückzugs stellt Cheheltan das der geistigen Öffnung gegenüber. Je selbstständiger Amir in seiner Lektüre wird, desto mehr rebelliert er gegen die konservative Interpretation der klassischen Schriften in dem Zirkel – bis hin zu dessen zeitweiligem Boykott. Als Sinnbild für die freizügige Kraft der Literatur, gegen jede Form von Orthodoxie oder Erhabenheit dienen Amir die von dem Zirkel unterschlagenen pornografischen Seiten der Klassiker – vor allem deren unverblümte Schilderung homosexueller Liebe.
Einfühlsam und plastisch zeichnet Cheheltan die intellektuelle Emanzipation Amirs nach. Prätentiös wird sein Buch nur dann, wenn er aus dem literarischen Kammerspiel ein literaturtheoretisches Proseminar macht. Die Alternativ-Lesarten, die der Ich-Erzähler als Jugendlicher entwickelt, erklärt er nachträglich gern mit Theorien von Paul Ricœur bis Julia Kristeva.
Als Amirs Vater stirbt, fällt die „kleine, schöne Welt, die uns jahrzehntelang wie ein Schutzmantel vor äußeren Bedrohungen bewahrt hatte“ der Planierraupe zum Opfer. Mit seinem Buch hat Amir Hassan Cheheltan dem lebensprägenden Faszinosum Literatur, die sich darin entwickelte, ein intimes und zugleich exemplarisches Denkmal gesetzt. Zum Glück ist diese Kraft nicht an einen festen Ort gebunden. Cheheltans Werk beweist es.
Es ist die Liebe zum literarischen Erbe ihrer Heimat, die sie alle vereint. Es ist die Liebe zum geschrieben Wort, die sie zusammenführt und es ähnelt einem literarischen Salon in Europa, wenn sie sich in einem besonderen Raum eines einfachen Hauses im Zentrum von Teheran versammeln. Es ist Der Zirkel der Literaturliebhaber, in den wir von Amir Hassan Cheheltan ohne Vorbehalte eingeführt werden. Der Schriftsteller ist sich sehr wohl darüber im Klaren, dass er sich mit seinem Buch nicht an Lesende und Literaturfreunde wendet, die ein Studium der persischen Literaturgeschichte absolviert haben. Nein. Er macht es uns leicht, weil wir uns von der ersten Seite an wünschen, in diesem Zirkel der Weltoffenheit und Bücherleidenschaft stille Zaungäste sein zu dürfen.
Es ist sein Leben, das der im Iran geborene Journalist und Schriftsteller hier vor uns öffnet. Es war sein Elternhaus, das dem Zirkel als Versammlungsort diente und es waren die guten Freunde seiner Eltern, die sich hier über Jahrzehnte hinweg trafen, in ihren Leseerinnerungen versanken, diskutierten, rezitierten und auch über Bücher und Autoren stritten. Es war sein Vater, der diesen Zirkel ins Leben rief. Und er war es, der seinem Sohn schon in ganz jungen Jahren den Zutritt zu einem „Club“ gewährte für den er eigentlich noch viel zu jung war. Die Exklusivität dieser Gesellschaft und das Land, in dem sich so viel verändern sollte, steckten den Rahmen für jene Treffen ab. Ein fragiler Rahmen voller Risiko und Gefahr. Fast vierzig Jahre lang währten die Treffen. Jahre, in denen sich die großen persischen Literaten ein Stelldichein gaben. Obwohl diese schon seit ewigen Zeiten verstorben sind, gehören sie zum inneren Kreis des Zirkels. Als wäre Shakespeare unter uns, wenn wir über Romeo und Julia sprechen. Magisch.
Natürlich geht es um Literatur in diesem Buch. Aber es geht auch um das Land, in dem sich Literaturliebe ihren Weg bahnt und dabei steht der Iran sinnbildlich für jedes Land dieser Welt und für viele politische Systeme, die ihre Finger nach der Kultur und den Menschen ausgestreckt haben, für die Literatur mit freiem Denken gleichzusetzen war. Was uns Amir Hassan Cheheltan über sein Heimatland erzählt ist erschreckend und doch so greifbar, weil wir vergleichbare Wellenbewegungen von Machtmissbrauch auch in den verschiedenen Deutschlands seit 1933 noch gut vor Augen haben. Hier ist uns nichts fremd. Lediglich die Rolle der Religion tritt an die Stelle von Ideologien, in denen Kultur als systemfeindlich gebrandmarkt, verbrannt und als entartet ausgegrenzt wurde.
Insofern ist der „Zirkel der Literaturliebhaber“ ein Sehnsuchtsort, ein Biotop des freien Denkens und gleichzeitig Dorn im Auge und Stachel im Fleisch jener, die solche Biotope trockenlegen wollen. Da ist es echt egal, ob wir von Nazis, Sozialisten oder von einem persischen Schah und den Mullahs sprechen, die ihn aus dem Land trieben. Wir verstehen dieses Buch richtig. Wir erkennen die Risiken eines solchen Reservates und wir können gut nachvollziehen, was im inneren Gefüge des Zirkels vor sich ging, als die Mitglieder der Gruppe nach der Revolution erfuhren, dass Geheimdienstmitarbeiter des Schah-Regimes den Zirkel unterwandert hatten und detailliert über die Treffen berichtet hatten. Hier klingeln Worte, wie inoffizielle Mitarbeiter und Denunzianten mehr als heftig in unseren Ohren.
Hier ist die Schönheit der persischen Sprache, die Hochkultur des Schreibens der beste Fluchtpunkt. Hierhin kann man sich zurückziehen, um über Liebe, Leidenschaft und die großen Dinge des kleinen Lebens zu philosophieren. Und Flucht ist immer dann von besonderer Relevanz, wenn sich das tägliche Leben in instabilen Verhältnissen und immer engeren Grenzen abspielt. Ein Refugium ist hier lebenswichtig. Das Buch strotzt nur so vor kleinen und wundervollen Anekdoten aus den alten Büchern der Dichter des Landes. Sie muten an, wie Geschichten aus Tausend und einer Nacht. Wir erleben den Affen, der immer ohne Herz verreist, weil es so traurig ist, dass er seine Freunde nicht mit seinem Schmerz konfrontieren möchte. Als er unterwegs auf einem Menschen trifft, der auf der Suche nach einem Affenherz als Medizinersatz ist, rettet ihm seine Marotte das Leben. Herrlich erzählt, wundervoll zu lesen und metaphorisch in jedem Kulturkreis von Relevanz. Man sollte nicht mit schwerem Herzen reisen.
Es sind die ganz großen Autoren der persischen Literatur, die hier ins Feld geführt werden. Rumi, Hafis, Saadi, Ferdowsi und viele andere öffnen dem Zirkel ihre Bücher und inspirieren die Männer und Frauen zu eigenen wunderbaren Gedanken. Während vor der Tür die Revolution tobt, die Mullahs die Macht an sich reißen und auch Literatur in den Fokus der islamischen Führer rückt, wird es zusehends gefährlich für den Zirkel. Der Koran steht über allem. Er scheint jedoch nicht vereinbar mit der Freiheit der alten Meister, auch sexuelle Themen in den Mittelpunkt ihres Schreibens zu stellen. Hier geht die Schere zwischen Kunst und Religion zu weit auf. Hier wird es gefährlich und hier ist der Zirkel der Literaturliebhaber allein auf weiter Flur. Untergrundlesen ist angesagt.
Toleranz: Fehlanzeige und die Freiheit des Denkens kann man abhaken. Hier geht Amir Hassan Cheheltan einen weiteren Schritt in ein Niemandsland, das man eigentlich nicht gerne betritt. Er setzt homophobe politische und religiös überlagerte Systeme auf die Anklagebank. Hier zeigt er deutlich auf, wie selbstverständlich gleichgeschlechtliche Liebe in der historischen persischen Literatur thematisiert wurde. Während draußen vor der Tür Homosexuelle zum Tode verurteilt oder hingerichtet werden, vertieft sich jener Zirkel in Textpassagen, die an Freizügigkeit nicht zu überbieten sind. Literatur ist ohne Vorurteil. Literatur ist nicht heterosexuell, sie ist oft so schwul, wie sie nur sein kann und sie geht diesen Weg konsequent zurück bis zu ihren Anfängen.
Hier liegt eine der wesentlichen Leistungen dieses Buches, das wie ein „Wolf im Schafsfell„ daherkommt. Das ist nichts für homophobe Lesende voller Vorurteile. Hier wird es provokant und überschreitet eine Vielzahl von Grenzen, die in vielen Ländern auch heute noch gezogen sind. Hier zeigt das Buch Flagge und lehnt sich gegen jede religiöse Doktrin auf und hier bezieht der Schriftsteller Stellung im Schützengraben der weltoffenen Freigeister. Ich wünsche es mir so sehr, dass dieses Werk aus Versehen jemandem in die Finger fällt, dem seine Vorurteile bitter aufstoßen. Eine differenzierte Beschreibung homoerotischer literarischer Passagen darf man hier nicht erwarten. Es geht bei den großen Meistern recht unverblümt zur Sache. Ich war mehr als begeistert von diesen Aspekten. Ein zutiefst humanistisches Buch voller Botschaften – gerade für den nicht-persischen Sprachraum. So sehr lesenswert.
Und ich wünsche mir, dass ich eines Tages etwas erlebe, was mir bisher verwehrt blieb (und das ist wahrlich kein Vorwurf):
„Mein Vater hat das später lachend als meinen Sturm auf seine Bibliothek
bezeichnet. Er hatte recht, an jenem Nachmittag hatte ich seine Bibliothek
gestürmt. Ein Dürstender, nicht ahnend, dass er von Flüssen umgeben war.“
Lesen hilft auch im Leben
15 March 2020Amir Hassan Cheheltans „Der Zirkelder Literaturliebhaber“ ist ein Romanüber die Kindheit und Jugend eineskünftigen Schriftstellers, zugleich aberauch eine Geschichte der klassischenpersischen Literatur, vorgestellt undausgetauscht bei einem immer donners-tags in einem der besseren ViertelTeherans stattfindenden Treffen inschwierigen Zeiten. In den 1960er und70er Jahren sind es der Repressionsap-parat des Schah-Regimes und dessenGeheimdienst Savak und ab 1979 dieMullahs und ihre Revolutionsgarden,die die Bevölkerung – und somit auchdie Literaturliebhaber – terrorisieren.Amir Hassan Cheheltan ist ein irani-scher Autor, er schreibt auf Farsi. Aberseine inzwischen neun Bücher erschie-nen alle zuerst auf Deutsch und inDeutschland, weil sie von der irani-schen Zensurbehörde zuverlässig ver-hindert wurden und der 1956 in Teherangeborene und als Elektroingenieur aus-gebildete Autor sich weigerte, vor denislamistischen Unterdrückern zukuschen. Auch sein neuestes Werkkonnte also nicht in der Originalsprachepubliziert werden.
Anders als sein Roman „Der standhaftePapagei. Erinnerungen an Teheran1979“ von 2018, in dem Cheheltandurch die Augen von Herrn Firuz, Besit-zer eines Spirituosenladens im Zentrumder Hauptstadt, von den Schandtaten dermit Khomeini verbundenen Basidischi-Miliz berichtet, ist „Zirkel der Literatur-liebhaber“ ein stilles Buch. Es erzählt,wohl weitgehend autobiografisch, voneinem Jungen, der in einer sehr liebevol-len Intellektuellen-Familie – Vater Lite-ratur-Professor, Mutter Lehrerin – auf-wächst und die politischen Verwerfun-gen quasi nur am Rande miterlebt.Umso intensiver sind die Assoziationendes irgendwann auch pubertierendenIch-Erzählers, nicht nur über die Poesie,die er – gelegentlich zum Literaturzir-kel zugelassen – mehr oder wenigerunbewusst miterlebt und innerlich nocheinmal „durchdiskutiert“, sondern auchüber die Veränderungen seines Körpersund dessen neue Bedürfnisse. Unvor-stellbar, dass die offen geschilderten,manchmal völlig in die anatomische undphysiologische Irre gehenden Gedankendes Knaben über den Körper seinerMutter, Großmutter und einer beson-ders korpulenten Literaturliebhaberindie iranische Zensur passiert hätten.Literatur beruhe immer auf zwei Säulen:Politik und Erotik, sagte Cheheltan 2019in einem Interview, weshalb es für ihnabsehbar sei, dass die iranische Litera-tur mit der Zeit unweigerlich verarme,wenn seine Schriftstellerkollegen,anders wohl als einige Filmemacher,sich immer stärker mit den Gegebenhei-ten arrangierten und in Anspielungenund Metaphern flüchteten. Dabei sei diePoesie der ruhmreichen persischenDichter wie Rumi (1207 - 1273), Hafiz(1315 - 1390) und Saadi (1210 - 1292)nicht nur grenzenlos frei und sozusagenweltbürgerlich offen, sondern geradezusubversiv und damit belebend, auch inBezug auf die körperliche Liebe. KeinWunder also, dass im Literaturzirkel mitgroßer Leidenschaft die Klassiker ver-handelt werden, und man – vielleichtgerade dadurch – allzu lange übersieht,dass sich zwei Spitzel unter die sichlange unpolitisch gebenden Mitgliedergemischt haben.
Selbst als irgendwann die Realität drau-ßen vor der Tür über die Schwelle desHauses tritt und der Kreis sich zuneh-mend verkleinert: Literatur hilft auch imLeben. Als Cheheltan im Alter von 24als junger Offizier in den Irak-Krieg zie-hen muss, hat er zuerst Saadis „Duftgar-ten“ im Gepäck und später, nach jedemFronturlaub, viele andere, dem Mullah-Regime unverdächtige, weil wohl nie-mals gelesene Klassiker, keine Lecke-reien von Mama also, wie die anderenSoldaten. Inmitten von Gewalt undunerträglichem Lärm kann er so „buch-stäblich“ überleben.LesezeichenAmir Hassan Cheheltan:„Der Zirkel der Literaturliebhaber“,C.H. Beck Verlag, 252 Seiten; 17,99Euro .
Persische Klassiker
11 March 2020„In jungen Jahren träumte ich eines Nachts von einem Raum, in dem nichts stand außer einem Tisch mit einer Handvoll weißer Blätter, die darauf warteten, dass jemand sie beschrieb.“ Mit diesen Worten setzt der Erzähler in Amir Hassan Cheheltans Roman „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ ein, es ist ein Traum, der auf die Leidenschaft seines Vaters zurückgeht, jeden Donnerstag Freunde einzuladen, um mit ihnen in einer Art Close Reading klassische persische Dichtung zu diskutierten. Je älter der Erzähler wird, desto stärker beginnt auch er sich für die Gespräche zu interessieren. Die kleinen, leicht durchschaubaren Tricks, mit denen sein Vater ihn an Stellen mit erotischen Inhalt mit einem Auftrag aus dem Zimmer schickt, verstärken dabei nur sein Interesse.
Wobei „erotisch“ oft zu euphemistisch klingt, denn viele der Autoren haben Verse mit eindeutig sexuellem, ja pornografischem Inhalt geschrieben. Viele waren schwul, unter ihnen Hafis, der im Westen wohl bekannteste persische Dichter. „Iranische Lyriker“, so Cheheltans Erzähler, priesen „die gleichgeschlechtliche Liebe bereits im zwölften Jahrhundert“. Wobei der Kreis der Literaturliebhaber hinter den eindeutigen Versen ihrer Ikonen immer einen tieferen Sinn suchte – zum Unmut des inzwischen erwachsenen Erzählers.
Kindheit und Jugend unter Literaturbegeisterten, das ist die Geschichte, die Cheheltan erzählt. Und er erzählt von der Offenheit der klassischen persischen Dichter für jede Form von Sexualität.
Das alles vor dem Hintergrund der Revolution von 1979, dem Krieg gegen den Irak und den Wellen islamistischen Terrors danach, die auch vor dem Literaturzirkel nicht haltmachen. Ein anregendes, lesenswertes Buch, auch wenn im zweiten Teil manche Passagen ein wenig zu akademisch geraten sind.
Die Literatur als Kokon
10 March 2020Über Jahrzehnte traf sich im Haus des Schriftstellers Amir Hassan Cheheltan eine Runde aus Literaturliebhabern und debattierte klassische persische Werke – bis die Politik in den Kokon der Lesenden einbrach.
Einmal mehr nimmt der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan seine Leserinnen und Leser mit zu dem Bruchpunkt der Geschichte seines Landes, jenen Tagen, mit denen er sich schon in vielen seiner Romane, nicht zuletzt seiner gefeierten Teheran-Trilogie, beschäftigt hat: Der Zeit der Islamischen Revolution im Jahr 1979.
Doch tatsächlich stehen die politischen Ereignisse diesmal nicht im Mittelpunkt, sondern die Literatur. Jeden Donnerstag traf sich im Gästezimmer der Cheheltans in deren Haus im wohlhabenden Teheraner Norden eine illustre Runde aus Autoren, Übersetzern, Lesern. Über Jahrzehnte hinweg, von den letzten Jahren der Schah-Ära bis zur Reformerperiode unter Mohammad Khatami, wurde dieser „Zirkel der Literaturliebhaber“ (so der deutsche Titel, übersetzt von Jutta Himmelreich) zum Fixpunkt für Cheheltan – und auch zum Spiegel der iranischen Gesellschaft.
Eine Feststellung vorab: Der Verlag bezeichnet dieses Buch, wohl der besseren Verkäuflichkeit wegen, als „Roman“. Das ist grob irreführend und erweist sowohl dem Autor als auch seinem Publikum einen Bärendienst. Denn es handelt sich um ein Sachbuch. Ein fundiertes essayistisches Werk über persische Literatur, verbunden mit persönlichen Erinnerungen des Autors. Wer einen Roman erwartet, wird zwangsläufig enttäuscht werden; wer hingegen auf der Suche nach einem Sachbuch zum Thema ist, wird Cheheltans verdienstvolles Buch womöglich übersehen. Eine verlegerische Entscheidung, die in keiner Weise nachvollziehbar ist.
Es ist – wieder einmal – ein Buch, das vorerst nur auf Deutsch erscheint. In Iran hätte es zweifellos keine Chance auf eine Publikationserlaubnis. Dabei ist die erwachende Sexualität des Teenagers nur das banalste von zahlreichen Tabuthemen, die Cheheltan sehr offen behandelt. Darunter auch der kritische Umgang mit der von Konservativen bestimmten Stellung der Frau, die bei den Cheheltans durch einen Rollentausch demonstriert, wie weit die gelebte Realität von den Vorstellungen religiöser Hardliner entfernt ist: Cheheltans Mutter arbeitete als Lehrerin, während sein Vater zu Hause samt Schürze am Herd stand und die Familie bekochte – was er höchst gerne tat, wenn er sich nicht gerade seiner Lieblingsbeschäftigung widmete: dem Lesen.
Das Haus, so ahnt man, muss einer Bibliothek geglichen haben, und die donnerstäglichen stundenlangen Treffen der Literaturliebhaber waren der Höhepunkt jeder Woche. Das wurde dem kleinen Amir Hassan Cheheltan schon früh klar, dessen Neugier auch dadurch geweckt wurde, dass man ihn des Zimmers verwies, wenn Passagen klassischer Dichter debattiert wurden, die eher nicht für kindliche Ohren geeignet sind. Mit umso größerem Vergnügen widmet sich Cheheltan daher später gerade dem Obszönen und Pornographischen bei Saadi, Rumi und vielen anderen. Elemente, die untrennbar sind von der persischen Literatur, die offiziell heute aber entweder ignoriert oder durch aberwitzige Interpretationen entschärft werden.
Aber auch mit dem Blick von außen geht Cheheltan ins Gericht: Mit den Unmengen an orientalistischen Werken, die jene Klassiker einem westlichen Publikum zu erklären versuchen, und er kommt zu der Erkenntnis, dass „der Westen uns nur von außen“ sieht, „nicht von innen. Seit drei Jahrhunderten versucht dieser, den Osten zu erklären. Gegenwärtig wird durch die sich zuspitzenden Krisen im Mittleren Osten und Phänomene wie die Taliban, al-Qaida, und ISIS offenkundiger denn je, wie schlecht ihm das gelingt und wie wenig er über uns weiß.“ Das macht er durchaus schlüssig auch an historischen Beispielen fest, und es wird klar, dass das Reden über den Osten (anstatt mit ihm) das Hauptproblem ist.
Gerade in Bezug auf Rumi, der nicht nur in Iran, sondern weltweit einer der meistübersetzten und meistgelesenen Dichter ist, stellt sich Cheheltan aber generell der Interpretationswut entgegen und zitiert Passagen, in denen Rumi seine Stärke aus der klaren Sprache und aus sehr eindeutigen Bildern und Metaphern zieht, und verweist darauf, dass der Dichter seine Verse zu seinen Lebzeiten vor einfachen Menschen in der Öffentlichkeit vortrug, und dass eine verschlüsselte, verklausulierte Symbolsprache diesem Publikum den Zugang versperrt hätte. Von den Ansätzen der Mystiker, in jedes Wort versteckte Bedeutungen hineinzulesen, hält er folglich wenig.
Große Aufmerksamkeit widmet Cheheltan der homoerotischen Lyrik, ohne die die klassische persische Literatur undenkbar ist: „Damals war homoerotische Liebe keine Schande. Und man kann das elfte christliche Jahrhundert ohne Übertreibung als Epoche homophiler iranischer Dichter bezeichnen“, wofür er eine Vielzahl an Beispielen aufführt, die sich sehr ähnlich auch in der arabischen Literatur finden. Susani Samarghandi etwa müsse, so Cheheltan, den Vergleich mit De Sade nicht scheuen. Homosexualität, heute tabuisiert und oft gar kriminalisiert, war in der islamischen Welt über Jahrhunderte gelebte Normalität. Der Wandel kam erst – und das thematisiert Cheheltan leider nicht – als Import der lustfeindlichen westlichen Eroberer in den Osten, die ihre verkorkste Sexualmoral mitbrachten.
Fast unmerklich bricht Stück für Stück die politische Realität in den Zirkel der Literaturliebhaber ein, der sich wie in einem Kokon, abgeschlossen von der Außenwelt, wähnt. Erst wird ein Spitzel des Schah-Geheimdienstes SAVAK in der Runde enttarnt, nach der Revolution dann kündigt Cheheltans Mutter ihren Job als Lehrerin, weil sie sonst gezwungen wäre, im Klassenzimmer Tschador zu tragen, und schließlich muss Cheheltan selbst für mehrere Jahre an die Front des Iran-Irak-Krieges. Endgültig zerrissen wird die vermeintliche Idylle in den Neunzigern, als das neue Regime systematisch Todeslisten erstellt, auf denen die Namen von Schriftstellern und anderen Kulturschaffenden stehen, und diese dann ermorden lässt. „Die das vorantreiben, sind sich bis heute nicht im Klaren darüber, dass alles, was eine Regierung zu ihrem eigenen Nutzen politisiert, sich früher oder später auch politisch gegen sie richten wird“, schließt Cheheltan aus dem Versuch des Regimes, die Kultur für sich zu vereinnahmen und kritische Stimmen auszuschalten.
Die iranische Geschichte der letzten hundert Jahre und insbesondere die Revolutionszeit und deren Auswirkungen hat Cheheltan in seinen Romanen, allen voran „Iranische Dämmerung“, ausführlich behandelt. „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ hingegen ist vor allem eines: Eine Einladung, zu lesen und zu entdecken – und nicht zuletzt eine Tür, die den Zugang zu den großen zeitlosen Werken der persischen Dichtung öffnet.
10.03.2020
Hamburg
Von
Gerrit Wustmann
Dichtung bleibt
15 January 2020Der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan erinnert sich an den Literaturzirkel seines Vaters und denkt über Poesie, deren Brücken durch die Zeit und aktuelle Unterdrückung nach. „In jungen Jahren träumte ich eines Nachts von einem Raum, in dem nichts stand außer einem Tisch mit einer Handvoll weißer Blätter, die darauf warteten, dass jemand sie beschrieb.“ Mit diesem Satz beginnt Amir Hassan Cheheltan seine melancholische Eloge auf den 32 Jahre lang in Teheran existierenden Literaturzirkel seines Vaters, in dem die Höhepunkte persischer Dichtung von Rumi, Saadi und anderen mit Verve disputiert wurden. Hier entdeckte der 1956 geborene Erzähler Cheheltan, Autor von „Teheran Revolutionsstraße“ (deutsch 2009) und „Teheran, Stadt ohne Himmel“ (2012), seine Liebe zur Literatur. Zärtlich und lehrreich schildert er den Kreis, mit dem er aufwuchs.
Nach etwa zwei Drittel gerät aber die Dramaturgie in Schieflage. Da geht Cheheltan dann übertrieben extensiv auf ältere homoerotische persische Liebeslyrik ein und zitiert ausführlich derbe bis unverstellt obszöne Passagen. Dies im Bestreben, die ätherisch abgehobenen Diskussionen im väterlichen Literaturkreis zu korrigieren. Erst auf den letzten zwanzig Jahren wendet sich Cheheltan dann von neuem den Mitgliedern des Zirkels zu und der iranischen Gegenwart in den späten 1990er Jahren. Im Jahr 1998 wurde einer der belesenen Mitglieder, Übersetzer der Werke des englisch-karibischen Autors V. S. Naipaul, der diesen trotz Verbots bei einer offiziellen Iran-Reise kontaktiert hatte, ermordet. Eindringlich skizziert Cheheltan die erdrückende bis mörderische Atmosphäre aus Hetze, Verleumdung, Zensur und unverstellter roher Gewalt, die damals über die Intellektuellen hereinbrach. Der Mord entzog seinem betagten Vater alle Lebenskraft und er starb kurze Zeit später. Zwei Jahre später verkaufte Cheheltans Mutter das Haus. Er selbst sah aus seiner neuen Wohnung zu, wie es abgerissen wurde, mitsamt des großen Gästezimmers, in dem die intensiven, beschwingten und leidenschaftlichen Gespräche über Literatur geführt wurden.
Alexander Kluy