Bedingt durch den tragischen absturz des Hubschraubers, mit dem irans präsident ebrahim raisi auf dem rückflug von der eröffnung eines staudamms an der Grenze des Nachbarlands aserbaidschan unterwegs war, müssen die iranischen präsidentschaftswahlen ein Jahr früher als geplant stattfinden. sie sind für den 28. Juni vorgesehen, also diesen Freitag.
Die politischen und wirtschaftlichen Zustände hierzulande sind heute so schlimm wie nie in den bisherigen fünfundvierzig Jahren der islamischen republik. Die Verschlechterung hat alle lebensbereiche erfasst, und sie ist so gravierend, dass Beobachter eine Verhaltensänderung der entscheidungsträger zur Verbesserung der lage für zu dringlich hielten, als dass man die ursprünglich fürs kommende Jahr geplante präsidentschaftswahl hätte abwarten können. ihrer meinung nach drohte der iranischen Gesellschaft ein ähnlicher sozialpolitischer Zusammenbruch, wie ihn die sowjetunion erlebt hat, sofern das land den bisher eingeschlagenen kurs weiterführte. Diese Hypothese einer dringend erforderlichen kursänderung in allen Gesellschaftsbereichen hatte Vermutungen genährt, manipulationen am Helikopter des präsidenten könnten den tödlichen absturz herbeigeführt haben. Diese spekulationen lösten in den ersten tagen nach dem ereignis einen sturm von Gerüchten aus, der sich allerdings sehr schnell legte, weil die Öffentlichkeit weniger interessiert daran war, weshalb der präsident der republik umgekommen ist, als dass sie sich fragt, wer denn seinen platz einnehmen soll.
Die meisten menschen im land leben in absoluter Hoffnungslosigkeit und sind der ansicht, dass es auch einem neuen präsidenten nicht gelingen wird, den harten kern der machthabenden zu einer kursänderung zu bewegen. Wobei es in diesen präsidentschaftswahlen ein Novum gibt. Der strenge Wächterrat bewies diesmal milde, indem er dem moderat kritischen und zu reformen tendierenden massud peseschkian gestattet hat, neben fünf fundamentalistischen kandidaten am Wahlkampf teilzunehmen. Die Front der reformer, die peseschkian anfangs als einen von drei kandidaten präsentiert hatte, sagte ihm nach der Befürwortung durch den Wächterrat ihre volle Unterstützung zu und konzentriert nun alle kräfte auf ihn. Die reformer, seit der amtszeit mohammad khatamis (1997 bis 2005) von der macht ausgeschlossen, bekommen damit Gelegenheit, ihr politisches Glück noch einmal zu versuchen.
Wahlen finden in iran in zwei phasen statt. Die kandidaten können sich erst zur Wahl stellen, nachdem sie den Filter des rates der Grundgesetzwächter passiert haben. Der rat hatte diesmal so strenge maßstäbe angelegt, dass selbst bekannte Gesichter wie mahmud ahmadineschad, der acht Jahre lang präsident des landes war, oder ali laridschani, der mehrere Jahre lang unterschiedliche wichtige Ämter, darunter das des parlamentspräsidenten, innehatte, an diesem Hindernis scheiterten.
Bei den letzten präsidentschaftswahlen hatte peseschkian noch nicht kandidieren dürfen, weil der Wächterrat ihn für unqualifiziert befand. Dass kandidaten sich für eine Wahlrunde nicht qualifizieren, zu einer anderen aber zugelassen werden, ohne dass sich an ihrem politi schen Verhalten oder ihren einstellungen Wesentliches geändert hätte, deutet experten zufolge darauf hin, dass der Wächterrat die eignung der kandidaten nach maßgabe der jeweils herrschenden lage beurteilt, statt sich an gesetzliche Vorschriften zu halten. Dadurch wird Wahlmanipulation betrieben. Fachleute sagen, dass der harte kern der machthabenden diesmal einem gemäßigten kandidaten gestattet habe, sich am Wettbewerb um die präsidentschaft zu beteiligen, damit der den Wahlen neue anziehungskraft verleihe, für höhere Wahlbeteiligung sorge und dem system neue legitimität beschere. Bei der vorherigen Wahl waren die Urnen fast leer geblieben. Damals hatten nur vierzig prozent der Wahlberechtigten ihre stimme abgegeben. in der Hauptstadt teheran lag die Beteiligung sogar bei unter fünfundzwanzig prozent. massud peseschkian, ein neunundsechzigjähriger arzt, war unter khatamis regierung Gesundheitsminister und sitzt heute – und das bereits seit vier legislaturperioden – als Vertreter der stadt täbris im parlament. Vor dreißig Jahren verlor er seine Frau bei einem autounfall, hat seitdem nicht wieder geheiratet und seine drei kinder allein großgezogen. Um vor augen zu führen, wie prekär die wirtschaftliche lage in iran heute ist, zog der kardiologe in einer Wahlkampfrede einen Vergleich mit schah-Zeiten: er habe damals als einfacher soldat Wehrdienst geleistet und sich von der Hälfte seines solds ein motorrad kaufen können. Heute könne er sich als Herzchirurg selbst von dreien seiner monatsgehälter kein motorrad leisten. seine einschätzungen gewisser tragischer Vorfälle decken sich nicht mit den offiziellen Darstellungen. Über den tod der kanadisch-iranischen Journalistin sahra kasemi 2003 im berüchtigten ewin-Gefängnis, den der staatsanwalt in teheran als Folge eines Hirnschlags einstufte, sagte peseschkian, damals Gesundheitsminister, der tod sei infolge einer schädelfraktur eingetreten, und bei rechtzeitiger Behandlung hätte die Journalistin überleben können. auch das Vorgehen der sicherheitskräfte bei den landesweiten protesten in den Jahren 2017 und 2019 sah peseschkian kritisch.
Bei allen protesten aus überwiegend wirtschaftlichen und politischen Beweggründen beherrscht das thema schleierzwang die täglich und überall stattfindenden Debatten. Zu ihm müssen sich auch die präsidentschaftskandidaten positionieren. Vor knapp zwei Jahren war die junge mahsa amini wegen des Verstoßes gegen das Gebot angemessener Verschleierung von der moralpolizei festgenommen und im polizeigewahrsam geschlagen worden; sie fiel ins koma und starb drei tage später im krankenhaus. Der tod der jungen Frau löste damals heftige proteste aus, die landesweit um sich griffen und länger als vier monate anhielten. Unter der Devise
„Frau, leben, Freiheit!“ abgehalten, kamen im Verlauf dieser proteste mehrere Hundert menschen ums leben, Hunderte verloren durch Gummigeschosse ihr augenlicht, mehrere tausend teilnehmer wurden inhaftiert. seitdem hat sich am Umgang der moralpolizei mit mädchen und Frauen, die das Gebot der angemessenen Verschleierung missachten, nichts geändert, und bisweilen steigern kurze über soziale medien verbreitete Videosequenzen von entsprechenden Zusammenstößen den Zorn der menschen darüber, dass sich diesbezüglich nichts bessert. es ist also kein Wunder, wenn potentielle Wählerinnen und Wähler von den zur Wahl stehenden kandidaten wissen wollen, wie sie zum thema schleierzwang stehen und ob sie befürworten, dass die moralpolizei weiterhin in den straßen patrouilliert.
Die fünf gemeinsam mit peseschkian zur Wahl zugelassenen kandidaten der Hardliner haben in Verlautbarungen vor dem Wahlkampf ausländische Geheimdienste, unter ihnen Cia und mossad, als auslöser der proteste gegen den schleierzwang bezeichnet und gefordert, der Weigerung, sich angemessen zu verschleiern, ernsthaft entgegenzutreten. peseschkian vertritt als einziger eine andere auffassung. er ging sogar so weit zu sagen, dass auf unseren straßen nicht junge mädchen verprügelt werden sollten, sondern wir, deren tun unsere töchter dazu veranlasst hat, sich vom schleier abzuwenden.
Vermutlich werden sich, je näher der Wahltermin rückt, zwei oder drei der fünf Hardliner-kandidaten aus dem Wahlkampf zurückziehen, woraufhin die Wahl zwischen nur noch drei oder vier verbleibenden kandidaten entschieden wird. einer von ihnen wird wohl mohammad Bagher Ghalibaf sein, der sich bereits an zwei früheren Wahlkämpfen um die präsidentschaft beteiligt hat und beide male erfolglos blieb. seit 2020 ist er präsident und sprecher des iranischen parlaments, er war polizeichef und zwölf Jahre lang Oberbürgermeister von teheran. sein Name wird auch im Zusammenhang mit großen korruptionsfällen genannt, und er ist einer der Urheber des plans für moralische sicherheit und für den Umgang der moralpolizei mit Frauen im öffentlichen raum.
Auch said Dschalili kandidiert für die Fundamentalisten. Bei den präsidentschaftswahlen vor elf Jahren unterlag er wie auch
Ghalibaf gegen Hassan rohani. sechs Jahre lang leitete Dschalili die iranische Delegation bei den Verhandlungen über das atomprogramm des landes. in dieser Zeit erließ der UN-sicherheitsrat – mit chinesischer und russischer Zustimmung! – die härtesten resolutionen gegen iran. Dschalili vertritt die radikalste Fraktion der machthabenden.
einige tage vor Beginn des Wahlkampfs hatte der iranische Wirtschaftsverband in einer stellungnahme zu den präsidentschaftskandidaten zwanzig ökonomische probleme des landes benannt: allen voran den drastischen rückgang des pro-kopf-einkommens, die arbeitslosigkeit und die hohe inflationsrate. Die Hauptursachen für diese probleme sah der Verband in der beständig weiter um sich greifenden korruption und in der konzentration von macht und Geld in wenigen Händen, während die grundlegende lösung dieser probleme in der aufhebung der internationalen sanktionen und im abbau der spannungen mit der Weltgemeinschaft liege.
Zusätzlich zur galoppierenden inflation, die bei manchen lebensmitteln, so etwa bei rotem Fleisch, achtzig prozent erreicht hat, sind die menschen wie gesagt täglich mit dem thema Verschleierung konfrontiert und schlagen sich obendrein unentwegt mit Contentfiltern, der Blockade oder dem eingeschränkten Zugang zu den sozialen Netzwerken herum – ein Übel, das nach schätzungen eines experten im Jahr 2022 rund 773 millionen Dollar schaden verursacht und mehr als 82 prozent der menschen im land wirtschaftliche Verluste beschert hat.
Die regierung ist zur Untermauerung ihrer legitimität auf die Wahlbeteiligung der Bürger angewiesen. Zu welchen Gegenleistungen wird sie sich angesichts der genannten schwerwiegenden tatbestände bereit erklären? Die kandidaten der Fundamentalisten versprechen bisweilen, den Bürgern Fleisch nach Hause zu liefern und die löhne zu verdoppeln, Obdachlosen Grundstücke zur Verfügung zu stellen, und sogar Bargeld in Höhe von fünf millionen toman (rund einhundert euro) pro kopf wollen sie verteilen. indes kauft ihnen solche populistischen Versprechungen niemand mehr ab.
in Wahrheit herrscht in den säckeln der Fundamentalisten gähnende leere, es gibt nichts mehr, was man den menschen geben könnte. Und es wird kein Wunder geschehen. Weder die Hardliner noch die gemäßigten kandidaten sind in der lage, grundlegende probleme wie die Beziehungen zu den Usa, die massive strukturelle korruption, die zweistellige inflationsrate und ähnliche Herausforderungen zu bewältigen. Zur Wahl wird diesmal jene minderheit gehen, die an die Fundamentalisten glaubt, sowie die Gruppe der Unzufriedenen, die in der entscheidung für einen gemäßigten Vertreter noch eine Chance für Veränderung sieht. irans modern eingestellte mittelschicht steht dagegen vor einem politisch-moralischen Dilemma: sind die gewaltsamen Zusammenstöße bei den breiten protestbewegungen von 2017 und 2019, der abschuss des ukrainischen passagierflugzeugs über teheran – den viele menschen für mit absicht herbeigeführt halten – und die erschreckend brutale Niederschlagung der Bewegung „Frau, leben, Freiheit!“ anlass genug, sich von jeder weiteren unter diesem regime noch abgehaltenen Wahl abzuwenden? Das
wird sich am 28. Juni zeigen.
Amir Hassan Cheheltan lebt als Romanautor in Iran. Sein neuestes Werk, „Die Rose von Nischapur“, erscheint im Oktober bei C. H. Beck in deutscher Übersetzung.
Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.
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