Als meine Frau nach Hause kam, war ich gerade dabei, Salat zu machen. Weil die Begleitmusik aus meinem Handy leise genug war, konnte ich hören, dass die Wohnungstür auf- und wieder zuging. Meine Frau kam in die Küche, nahm Kurs auf mein Handy, schaltete die Musik aus und hatte, wie immer, wenn sie traurig oder sauer ist, an allem etwas auszusetzen.

«Wenn du dein Handy in der Küche so laut aufdrehst, hörst du weder das Telefon noch die Türklingel.»

Genervt ging sie einmal durch die ganze Küche und kam dann auf mich zu.

«Wenn du Salat machst, wisch doch vorher den Tisch gründlich ab.»

«Ja, mein Augenstern», sagte ich und küsste sie auf die Stirn. Sie ging sich umziehen und kam zurück in die Küche: «Wieso ist es so stickig hier drin?», wollte sie wissen. «Man merkt, dass du den ganzen Tag nicht gelüftet hast.»

«Doch, hab ich», sagte ich, «aber wenn du frische Luft brauchst, kann ich das Küchenfenster gern aufmachen.» Ihr kurzer Wink mit der Hand hiess: Das Fenster kann zubleiben. Ich stellte Salz, Essig und Olivenöl auf den Tisch und servierte ihr reichlich Salat. Statt sich aber ihrem Teller zu widmen, starrte sie auf die Tischplatte. Ich sagte nichts. Ich kenne sie. Sie braucht Zeit.

Unterdessen holte ich eine Flasche von meinem selbstgekelterten Wein, stellte auch die auf den Tisch, und erst als ich Brot für sie schnitt, hob sie den Kopf und sagte leise: «Es gibt Tage, an denen hab ich keinen Funken Hoffnung mehr, dass aus diesem Land je was Besseres wird als die Jauchegrube, die es jetzt ist.»

Sie redete sich warm, hob zornig die Stimme und stellte zum tausendsten Mal ihre verfluchte, ewig unbeantwortete Frage: «Ist das etwa nicht unser Land?»

Und statt meine Antwort abzuwarten, schob sie eine zweite Frage nach. «Weshalb lassen sie uns hier nicht so leben, wie es uns passt?»

Ich bezog auch jetzt nicht Stellung. Sie liess ihre Hände links und rechts neben ihrem Teller ruhen und sah mich an. Das war das Zeichen für meinen Einsatz, der Moment, sich nach der Laus zu erkundigen, die ihr über die Leber gelaufen war.

«Ist irgendwas vorgefallen?», fragte ich. Weil sie ihre ganze Energie schon darauf verwendet hatte, ihrem Ärger Luft zu machen, blieb ihr jetzt nur noch, entkräftet zu antworten: «Ich hab Herrn Mortasawi im Aufzug getroffen.»

Mehr sagte sie nicht. Stattdessen gab sie, in aller Ruhe und mit Augenmass, etwas Salz in ihren Salat, dann Essig und Olivenöl. Als ob es ihr Freude machte, mich auf die Folter zu spannen. Dann sagte sie: «Er war total wütend.»

Sie schüttelte den Kopf, führte eine Gabel mit grünem Salat und Tomate zum Mund und kaute. Die nächste Pause. Um ihr zu zeigen, dass ich gern wüsste, wie die Geschichte weitergeht, legte ich Messer und Gabel aus der Hand und sah sie erwartungsvoll an. Wieder schüttelte sie den Kopf und sagte: «Sie haben ihren Hund gestern auf der Strasse beschlagnahmt.»

«Wie bitte?», entfuhr es mir. Ich hatte richtig gehört. Meine Frau lieferte Details: «Du weisst ja, wie sehr Aresu an dem Tier hängt. Ihr Vater sagt, sie habe seit gestern keinen Bissen mehr gegessen.»

«Wer macht denn sowas?»

Eine rhetorische Frage.

«Einer von denen, die hierzulande überall mitmischen dürfen!»

Die Mortasawis sind unsere Nachbarn, ruhig, unaufdringlich. Selbst ihre kleine süsse Hündin Nasi macht sich kaum bemerkbar. Man hört sie nur selten bellen. Und Nasi hatten sie der vierzehnjährigen Tochter Aresu jetzt weggenommen.

Seit zwei Jahrzehnten, und mit täglich wachsendem Interesse, legen sich immer mehr Angehörige der urbanen Mittelschicht ein Haustier zu. Mittlerweile trifft man sie überall an, in Wohnungen, in Autos, in öffentlichen Parks und auf Gehwegen. Wenn offizielle Stellen gegen dieses Phänomen vorgehen, begründen sie ihre Massnahmen damit, dass die Haustierhaltung einen Brauch aus der westlichen Kultur kopiere und für unsere muslimisch geprägte Gesellschaft keine Zierde sei.

Das offiziell immer wieder geäusserte Missfallen wird untermauert mit Berichten über Hunde, die mal in einem Park ein wehrloses Mädchen, ein andermal auf offener Strasse eine schwangere Frau angefallen haben, die dann vor Schreck eine Fehlgeburt erlitt. Eines Tages legten Abgeordnete, Gegner der privaten Hundehaltung, einen Plan vor, der das Ausführen von Hunden in städtischen Grünanlagen und auf öffentlichen Strassen und Plätzen verbot. Zuwiderhandlung hätte eine Registrierung, die Beschlagnahmung des Hundes und eine Geldstrafe zur Folge gehabt. Zusätzlich war gar erwogen worden, Haustierhaltung in Privaträumen mit vierundsiebzig Peitschenhieben zu ahnden. Zum Glück wurden die Pläne nicht umgesetzt. Danach blieb es, von gelegentlichen Unmutsbekundungen und Drohungen der Polizei abgesehen, eine Weile still um das Thema. Dass tatsächlich Schritte unternommen worden wären, hörte man nicht. Auch zum immer wieder für Entrüstung sorgenden Thema Strassenhunde gab es keine neuen Meldungen.

Bis in den sozialen Netzwerken eines Tages ein Bericht über Hunde in einem Tierheim auftauchte, der auch die Diskussion über Haushunde und das Gassiführen wieder anfachte. In einem Tierheim in Maschhad hatte man rund zweitausend Hunde sich selbst überlassen und derart vernachlässigt, dass sie unterernährt gestorben waren. Ein krasser Gegensatz zu früheren Zeiten, als man die Tiere dort geimpft und kastriert hatte, um sie auf eine Adoption durch Privatpersonen vorzubereiten oder sie wieder in die Freiheit zu entlassen.

Ein Fotograf hatte die untragbaren Zustände in dem Heim festgehalten und mit seiner Dokumentation der erbärmlichen Lage der Strassenhunde für einen öffentlichen Aufschrei gesorgt. Den Haushunden versuchte man anders beizukommen. In Ahwas, der bedeutendsten Metropole im Süden des Landes, wurde das Ausführen von Hunden verboten. An den Eingängen zu Stadtparks hingen Schilder, die Hunden den Zutritt zu öffentlichen Anlagen verwehrten und klarmachten, dass aktenkundig würde, wer das Verbot missachtete. Kurz darauf tauchten im Internet Videos auf, die zeigten, wie Polizisten Hundebesitzern ihre geliebten Vierbeiner mit Gewalt entrissen. Herzerschütternde Szenen.

Nachdem Juristen klargestellt hatten, dass die öffentliche Beschlagnahmung von Hunden jeder rechtlichen Grundlage entbehre, erklärte Teherans Staatsanwalt das Spazierenführen von Hunden im urbanen Raum zu einem öffentlichen Ärgernis. Wer öffentliches Ärgernis erregt, begeht eine gerichtlich verfolgbare Straftat. Teherans Polizeichef löste mit einer Pressekonferenz, auf der er verlautbaren liess, das Ausführen von Hunden auf Strassen und Plätzen sei verboten, so heftige Proteste aus, dass der Staatsanwalt von Karadsch, nach Teheran die Stadt mit der zweithöchsten Bevölkerungsdichte, öffentlich zurückrudern musste: «Angeleint und dicht an der Seite ihrer Halterinnen und Halter dürfen Hunde im öffentlichen Raum aus- und auch in Pkw mitgeführt werden. Das ist nicht strafbar und hat kein gerichtliches Nachspiel.» Ein weiteres Video tauchte auf und belegte eindeutig: Gegen Strassenhunde gingen die Behörden mit Gift- oder Säureinjektionen vor.

Ein neuer Feldzug gegen im öffentlichen Raum ausgeführte Haustiere und ihre Halter setzte ein, als der ranghöchste Kleriker in der Regierung der Provinz Gilan am Kaspischen Meer das Halten von Hunden mit einer dem Coronavirus vergleichbaren Plage gleichsetzte. Eine Woche nach dieser öffentlichen Verlautbarung forderte der Staatsanwalt der Provinz Gilan die örtlichen Tierkliniken auf, der Staatsanwaltschaft Informationen über Haustierhalter zugänglich zu machen. Wenig später gab der offizielle Nachrichtendienst der Koranschulen in der heiligen Stadt Ghom die Erklärung eines Geistlichen heraus, der das Gassiführen von Hunden als ein gesellschaftliches Drama bezeichnete. Teherans Polizeichef gab unterdessen bekannt, wie man gegen Menschen vorzugehen gedenke, die sich an das Verbot, Hunde im öffentlichen Raum auszuführen, nicht hielten: Ihre Hunde würden konfisziert werden.

Meine Frau hatte ihren Salat inzwischen aufgegessen, schob den leeren Teller mit dem Handrücken beiseite und griff nach ihrem Glas Wein. «Mir will einfach nicht in den Kopf, weshalb sie sich in unsere intimsten Angelegenheiten einmischen müssen. Jeder hat das Recht, sich Haustiere anzuschaffen, nicht zuletzt um seine Einsamkeit zu vertreiben. Erst recht ein so liebes, niedliches Geschöpf wie Nasi.»

Inzwischen verging kein Tag mehr, ohne dass man in den sozialen Netzwerken von Hundehaltern las oder hörte, die, ihre geschätzten Gefährten im öffentlichen Raum Gassi führend, die Polizei auf den Plan riefen. Wobei die Polizei mitunter gewaltsam gegen Leute vorging, die sie im Freien mit ihren Hunden antraf. Die Zivilgesellschaft ging zum Gegenangriff über, indem sie sich täglich mehr Hunde zulegte. Das zeigte sich zum einen an der Vielzahl von Spaziergängern, die in der Abenddämmerung mit ihren Hunden unterwegs waren, zum anderen an der stadtweit wachsenden Zahl von Tierarztpraxen und an der allenthalben zunehmenden Werbung für Hunde- und Katzenfutter. Haushunde sind inzwischen so gefragt, dass sich in einer entlegenen Ecke Teherans ein Hundemarkt etabliert hat. Am freien Freitag strömen Anbieter und Käufer scharenweise dorthin und können aus einer breiten Palette von Angeboten zwischen spottbilligen und mehrere hundert Millionen Toman (mehrere zehntausend Euro) teuren Tieren wählen.

Mortasawis Hündin Nasi war ich in den letzten Monaten mehrfach begegnet, im Aufzug oder im Hausflur, wenn Aresu die Kleine auf dem Arm hatte, um mit ihr an die frische Luft zu gehen. Lebhaft und verspielt war die Yorkshire-Terrierin, hatte glänzende, wache Augen und langes, blaugrau gelocktes Fell. Aresu hatte ihr mit einer bunten strassbesetzten Haarspange ein paar Locken so über dem Kopf zusammengebunden, dass der verzierte Schopf wie ein Krönchen aussah und Nasi zur Königin machte. Die Mortasawis hatten sich die Kleine vor vier Monaten angeschafft. Nachdem Frau Mortasawi völlig unerwartet am Coronavirus gestorben war, war ihre einzige Tochter Aresu schwermütig geworden.

Coronabedingt hatte damals keine Beerdigungsfeier für Frau Mortasawi stattgefunden. Besuche bei den Hinterbliebenen mussten entfallen, und in den ersten Tagen nach dem Tod der Mutter war es totenstill in der Wohnung gewesen. In solchen Fällen spenden Anrufe kaum Trost, aber damals blieb uns schlicht nichts anderes übrig. Meine Frau machte es sich zur Aufgabe, Aresu fast täglich anzurufen. «Sie spricht so leise, dass ihre Stimme klingt, als käme sie aus einem tiefen Brunnen», bedauerte meine Frau. Die introvertierte Aresu hatte eine Woche nach dem Tod ihrer Mutter zu meiner Frau gesagt: «Ich wusste ja, dass Mütter eines Tages sterben müssen, aber dass es mich schon mit dreizehn treffen würde, hab ich nicht geahnt.» Wochen nach dem Tod ihrer Mutter hatte Aresu noch zurückgezogener und in sich gekehrter gewirkt als bisher. Sie hatte keinen Appetit, war so antriebslos, dass sie auch keinen Kontakt mehr zu ihren besten Freundinnen halten mochte. Meine Frau zählte wohl zu den Ersten, die Herrn Mortasawi damals rieten, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen oder zumindest den Hausarzt zu konsultieren. Nasi, die süsse kleine Hündin, war das unmittelbare Resultat dieser Beratungen. Um Aresu aufzuheitern, hatte ihr Vater das aufgeweckte kleine Hündchen gekauft, ein sehr agiles, quicklebendiges Wesen. Nachdem Nasi angeschafft war, konnte Herr Mortasawi meiner Frau berichten: «Die Atmosphäre zu Hause hat sich verändert. Die kleine Kreatur hat uns Liebe geschenkt und natürlich auch Liebe eingefordert. Seit wir Nasi haben, ist wieder Freude im Haus, neues Leben.»

Am eingangs erwähnten Abend sprachen wir nicht weiter über Aresu und ihren konfiszierten Hund. Ein, zwei Stunden später aber, als wir schlafen gehen wollten, klingelte das Telefon, und meine Frau meldete sich so schnell, als hätte sie geahnt, dass der Anruf kommen würde. Sie hörte der Person am anderen Ende der Leitung recht lange aufmerksam zu und sagte dann, sichtlich betroffen: «Oh!»

Sie sprach mit Herrn Mortasawi, eindeutig. «Das rührt wohl von der nervlichen Belastung her», mutmasste meine Frau. «Bringen Sie sie am besten ins Krankenhaus. Vielleicht braucht sie ein Beruhigungsmittel, eine Infusion, die ihr wieder auf die Beine hilft.» Das Gespräch war kurz, meine Frau legte auf: «Aresu hat Fieber», erklärte sie mir. Und von einem Unbekannten irgendwo zwischen Himmel und Erde wollte sie wissen: «Wann lassen sie uns endlich in Ruhe?»

Als Zahnärztin wird meine Frau in der Nachbarschaft zwangsläufig um so manchen medizinischen Rat gebeten, den sie nur bei Erkältungen oder anderen ähnlich harmlosen Befunden gibt. Vergeblich betont sie immer wieder, dass sie nur Zahnärztin sei. Unsere Mietergemeinschaft hält es für selbstverständlich, sie bei jeder Art von Unpässlichkeit um Rat zu fragen.

Kurz nach Herrn Mortasawis Anruf hörte ich den Aufzug im Treppenhaus, meine Frau putzte sich unterdessen schlecht gelaunt die Zähne und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, ins Bett, während ich mich in mein Arbeitszimmer setzte, um einen Text auszuarbeiten, den mein Verleger am nächsten Tag erwartete.

Dieser nächste Tag verlief ohne besondere Vorkommnisse, weshalb ich meinen Auftrag termingerecht abliefern konnte und Aresu und ihren beschlagnahmten Hund ganz vergessen hatte. Als aber meine Frau an dem Abend heimkam, fragte sie zuallererst: «Was hört man von den Mortasawis?» Da ich mit einer aktuellen Meldung nicht aufwarten konnte, ging sie zum Telefon. «Zieh dich doch erst um», riet ich ihr. Auf meinen Vorschlag reagierte sie nicht, sagte aber, nachdem sie Mortasawis Nummer gewählt hatte, kurz und durch den Mundschutz, den sie noch trug, gedämpft: «Ich ertrag das nicht.»

Ins Telefon fragte sie: «Aresu, Liebes, bist du’s?» Allein diese einfache Frage war dem Kind offenbar Anlass genug, in Tränen auszubrechen. Ich konnte Aresu deutlich schluchzen hören. «Ich bitte dich!», sagte meine Frau mehrmals, ohne den gewünschten Erfolg. Sie schaltete den Lautsprecher ein, weil auch ich Aresus Stimme hören und die Brisanz der Lage erfassen sollte.

«Die bringen meinen kleinen Hund um, ganz bestimmt!»

Meiner Frau war anzusehen, wie nahe ihr Aresus Befürchtung ging. «Warum sollten sie das tun?» – «Ich hab im Internet gelesen, dass sie Hunde umbringen, indem sie ihnen Säure in die Adern spritzen. Das tut den armen Tieren doch total weh, oder, Frau Doktor?» Sie weinte und weinte. Die tröstenden Worte meiner Frau halfen nicht gegen die Tränen. Von dieser grausamen Methode hatte auch ich gelesen. Und dass man die Zahl der Strassenhunde ausserhalb der Hauptstadt zu verringern suchte, indem man sie in Baukalk begrub. Vermutlich hatte man die Bevölkerung am Stadtrand dazu aufgerufen, streunende Hunde einzusammeln, und gab im Tausch für jedes tote oder lebendige Tier eine Summe Geld. Arbeits- und Obdachlose machten sich ans Werk, stellten die Stadt auf den Kopf, jedem Hund bis in seinen letzten Schlupfwinkel nach und verkauften die Tiere an die zuständige Behörde. Um den Transport mancher Tiere zu erleichtern, injizierten sie ihnen Alkohol, wogegen Tierschützer heftig protestierten. Weil Aresu jetzt hemmungslos schluchzte, übernahm ihr Vater den Telefonhörer und wechselte ein paar Worte mit meiner Frau.

Aresus Fieber war erfreulicherweise gesunken. Um Nasi zurückzuholen, hatte Herr Mortasawi sich an die örtliche Polizei gewandt, die allerdings keine Auskunft über den Verbleib des Tiers hatte geben können. In anderen Teilen der Stadt hatten zwanzig weitere Hundebesitzer versucht, ihre Hunde zurückzubekommen. Die örtlichen Revierleiter hatten, jede Zuständigkeit von sich weisend, erklärt, die Hunde seien ins Polizeihauptquartier gebracht worden. Dorthin solle sich wenden, wer sein Tier zurückhaben wolle. Herr Mortasawi war gemeinsam mit seinen zwanzig Leidensgenossen zum Hauptquartier gefahren und unverrichteter Dinge wieder heimgekehrt. Der vergebliche Vorstoss hatte Aresus Befürchtungen verstärkt.

Laut meiner Frau verfolgte Aresu, seit sie ihren Yorkshire-Terrier hatte, alle Nachrichten über Haustiere in der ganzen Stadt. Nicht wenige machten ihr Angst, die sie aber, um ihren Vater nicht zu beunruhigen, für sich behielt. Vor ein, zwei Monaten beispielsweise hatten Polizisten einen Hund vor den Augen seines Besitzers umgebracht, indem sie ihm den Hals umgedreht hatten.

Meine Frau lud Herrn Mortasawi zu uns nach Hause ein. Er war der erste Gast, den wir in Corona-Zeiten empfingen. Vorschriftsmässig machte meine Frau die Fenster zu beiden Seiten der Wohnung auf, damit für frische Luft gesorgt war, und sie bestimmte auch, wer wo zu sitzen hatte. Herr Mortasawi kam vorbei, und obwohl er wie wir einen Mund- und Nasenschutz trug, konnte man ihm ansehen, wie müde und angespannt er war. Er machte seinem Herzen sofort Luft: «Was soll aus diesem herrenlosen Land nur werden?»

Meine Frau sagte: «Das Land gehört schon jemandem, nämlich uns, dem Volk. Aber wir durften ja nie frei entscheiden, wir sind ja von jeher entmündigt.»

Dann bot sie ihm Tee oder Kaffee an, die Herr Mortasawi dankend ablehnte: «Wenn ich um diese Zeit Kaffee oder Tee trinke, schlafe ich schlecht.»

Ich brachte ihm, wortlos, ein ihm sehr willkommenes Glas Wein: «Das ist jetzt genau das Richtige.» – «Das dachte ich mir», pflichtete ich ihm bei. Ich brachte auch ein Glas für mich und eines für meine Frau, und wir stiessen auf das Wohl der kleinen Nasi an und wünschten Aresu, dass sie ihren süssen Hund möglichst bald wieder in die Arme schliessen könne. Ein Moment der Stille verstrich. Dann sagte meine Frau, wohlüberlegt: «Ich hätte einen Vorschlag zu machen.»

Herr Mortasawi nickte interessiert und sah meine Frau aufmunternd an.

Sie rutschte zunächst in ihrem Sessel hin und her, rückte dann nach vorn auf die Sitzkante und sagte, wie jemand, der einen gut durchdachten Plan hat und sich seiner Sache sicher ist: «Wir müssen eine konzertierte Aktion starten!»

Mehr sagte sie nicht. Wie war ihr Vorschlag gemeint? Herr Mortasawi lehnte sich zurück, legte grüblerisch eine Hand ans Kinn. Nach einer Weile fragte meine Frau: «Haben Sie Kontakt mit Leuten, denen dasselbe passiert ist wie Ihnen?»

«Mit vier oder fünf ebenfalls Betroffenen, ja.»

«Kann es sein, dass auch die mit Leuten in Verbindung stehen, deren Hunde beschlagnahmt wurden?»

«Manche haben Telefonnummern untereinander ausgetauscht, ja.»

«Gut. Wir müssen eine Telegram-Gruppe gründen, so schnell wie möglich.»

«Vermutlich hat die Polizei auch anderswo in der Stadt Hunde konfisziert. Sie, Herr Mortasawi, müssten also auch bei anderen Revieren in Erfahrung bringen, wem es ähnlich erging wie Ihnen. Hier scheint eine Kampagne in Gang, die Hundebesitzer einschüchtern soll. Bevor es zu spät ist, müssen wir gemeinsam etwas auf die Beine stellen.»

Herr Mortasawi nickte, freudestrahlend. Der Gedanke einer gemeinsamen Unternehmung gefiel ihm. Meine Frau ergänzte: «Einer allein kann in solchen Fällen gar nichts ausrichten.» Plante sie eine Revolution? Herr Mortasawi sollte sich gleich heute Abend noch ans Werk machen und Leute anrufen. Er trank sein Glas Wein aus und erhob sich. Bevor er unsere Wohnung verliess, bat er meine Frau: «Seien Sie so gut, sprechen Sie häufiger mit Aresu. Sie ist so unausgeglichen. Und Ihnen vertraut sie mehr als allen anderen.»

«Ich rufe sie gleich an», sagte meine Frau. An dem Abend ging meine Frau vermutlich in Gedanken an einen Plan schlafen, von dessen Umsetzung das Leben der konfiszierten Tiere und die seelische Gesundheit ihrer Besitzerinnen und Besitzer abhingen.

Meine Frau redet bisweilen im Schlaf. So auch in dieser Nacht. Ich wurde wach, verstand zwar nicht, was sie sagte, erkannte am Klang ihrer Stimme aber, dass sie mit jemandem im Streit lag. Vielleicht mit einem der Strategen, die den Plan gegen das Gassigehen ausgeheckt hatten? Ich vermochte es nicht zu sagen. Was ich aber mit Sicherheit sagen konnte, war, dass meine Frau meist recht gewagte Pläne ersann. Ihr das zu vergegenwärtigen, fehlt mir der Mut.

Die nächsten Tage verliefen ereignislos. Weil ich ohnehin nur ans Schreiben denke, hatte ich Aresu und ihren Hund schon wieder vergessen. Auch meine Frau war während der folgenden Tage hauptsächlich mit anderen Dingen beschäftigt, hatte aber, eines Spätnachmittags auf dem Heimweg von ihrer Praxis, einen Anruf von Herrn Mortasawi bekommen und konnte mir, kaum zu Hause angelangt, haarklein und mit Feuereifer Bericht erstatten. «Es läuft alles prima. Unser Plan wird sogar besser angenommen, als wir dachten. Alle wollen mitmachen. Schon siebenundsechzig Leute haben sich der Gruppe angeschlossen. Wir rechnen bald mit einer dreistelligen Zahl. Mehr als genug für eine gemeinsame Aktion. Wir kommen unserem Ziel täglich ein Stück näher.» Sie ging im Zimmer auf und ab, während sie sprach, streute dann und wann die Spannung erhöhende Pausen ein. Manchmal schwang sie ihre Fäuste und schien, schmal, wie sie war, von revolutionärem Eifer gepackt.

Draussen, in der rauen Wirklichkeit, beschlagnahmten Polizisten unterdessen weiterhin Hunde. Aresu war mit der weiteren Beobachtung der Lage betraut worden, weil sie sich im Umgang mit sozialen Medien am besten auskannte und beständig neue Mitstreitende für die Gruppe der Besitzer beschlagnahmter Hunde warb. Meine Frau schlug vor, die Gruppe Kampfgruppe gegen die Beschlagnahmung von Haustieren! zu nennen. Über den Vorschlag wurde abgestimmt, die Bezeichnung für zu lang befunden. Die Mehrheit hielt einen kurzen, einprägsamen Namen für sinnvoller, und man einigte sich schliesslich auf German King, weil nicht wenigen Gruppenmitgliedern ein Deutscher Schäferhund entwendet worden war. Jetzt verfolgte auch meine Frau täglich, was sich in der Gruppe tat. Sie beriet nicht mehr nur Herrn Mortasawi, sondern war auch mit anderen Leuten aus der Gruppe vernetzt. Auf die ihr angetragene Ehrenmitgliedschaft verzichtete sie zugunsten des bescheideneren Titels der Beraterin. Die Revolution trat in immer heissere Phasen, hielt meine Frau mittlerweile mehr in Atem als andere Belange und war bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihr Hauptgesprächsthema. «Alle, die sich hierzulande für den Tierschutz einsetzen, müssen sich zusammentun. Und am besten vernetzen wir uns auch mit ausländischen Aktivisten, die ähnliche Ziele verfolgen wie wir.»

Ich dämpfte ihren Tatendrang: «Manchmal vergisst du wohl, in welchem Land wir leben. Leute, die mit dem Ausland in Kontakt stehen, werden hier ausspioniert!»

Meine Frau gab sich unbeirrt kämpferisch: «Das darf uns nicht davon abhalten, uns unsere Rechte zu erstreiten.» Aufgekratzt lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück.

«Es geht nicht anders. Entweder ergeben wir uns alle ins unabwendbare Schicksal, oder wir leisten Widerstand.» Was soll ich machen? Als die Revolutionärin, die sie ist, begibt meine Frau sich immer auf gewagte Pfade. Zwischen ihrer Sicht der Dinge und meiner konservativen Einstellung liegen Meilen.

Unsere Wohnung mutierte bald zum Hauptquartier der Umstürzler, meine Frau wurde die Vordenkerin der Rebellen. Herr Mortasawi war für die praktische Umsetzung von Aktionen zuständig, und ein Team von Freiwilligen kümmerte sich um die Vernetzung mit Dritten, um Information, Kommunikation, Koordination und andere Erfordernisse.

Nach zwei Wochen Hin und Her war, später als erhofft, zumindest ein Etappenziel erreicht. Der Polizeichef stellte einen Termin zur Rückgabe der beschlagnahmten Hunde in Aussicht. Als meine Frau mich eines Abends optimistisch bat, mit ihr auf einen sich abzeichnenden Sieg anzustossen, klingelte das Telefon. Meine Frau meldete sich. Aresu war am Apparat. «Ja, gut, Aresu, Liebes», hörte ich meine Frau sagen. «Ja, auf jeden Fall …, ganz bestimmt …, ich bin da, morgen um acht.»

Das Polizeipräsidium Teheran hatte bekanntgegeben, die Besitzer beschlagnahmter Hunde könnten diese am nächsten Tag in einem Camp am Stadtrand abholen, sofern sie sich im Gegenzug dazu verpflichteten, ihre Vierbeiner nicht mehr im öffentlichen Raum auszuführen. Der auf die Initiative meiner Frau hin an den Polizeichef gerichtete Protestbrief hatte offenkundig Wirkung gezeigt. Die Unterzeichnenden hatten gefordert, man möge die Tiere ihren rechtmässigen Besitzern beizeiten zurückgeben, statt ihren Tod in Kauf zu nehmen. Drei kurze Sätze von Aresu waren dem Brief vorangestellt:

Bitte bringen Sie meinen Hund nicht um!

Bitte geben Sie mir meinen Hund zurück!

Mein kleiner Hund ist das grösste Glück in meinem Leben.

Aresu Mortasawi

Am nächsten Morgen fuhr meine Frau, wie verabredet, mit Herrn Mortasawi und Aresu zu der Sammelstelle. Später schilderte sie mir, wie es ihnen dort erging:

«Gegen neun Uhr morgens kamen wir in Kahrizak an, südlich von Teheran. Das Gebäude dort sieht aus wie ein Gefängnis, mit dem Wachturm davor, der Mauer ringsum und Stacheldraht obendrauf, der die Mauer noch höher macht. Zwei Polizeiautos standen davor, ein paar Polizisten patrouillierten. Wir konnten die Hunde hören, aber nicht sehen. Alle dort waren traurig und haben sich endlose Sorgen gemacht. Manche haben erzählt, wie schlau und treu ihre Hunde sind, andere haben beschrieben, wie schlimm es für sie gewesen sei, ihre Lieblinge beschlagnahmt zu sehen. Zwei, drei Leute standen etwas abseits und haben geweint. Eine geschlagene Stunde später – die Leute hatten sich immer noch traurige Geschichten zu erzählen – hat ein Polizist das grosse Eisentor aufgemacht und jeweils zehn Leuten erlaubt, ins Lager zu gehen und nach ihren Hunden zu suchen. Für die noch Wartenden vergingen schreckliche Minuten fast wie in Zeitlupe. Dabei kamen die ersten schon recht schnell wieder nach draussen, mit ihren Hunden. Andere kamen weinend zurück, mit leeren Händen. Aber beide Gruppen haben die chaotischen Zustände im Lager angeprangert. Alle Hunde waren stark abgemagert, eindeutig unterernährt. Dann waren wir an der Reihe. Wir sind durchs Tor gegangen, dann durch einen breiten, schlecht beleuchteten Gang und standen plötzlich in offenem Gelände. Dort waren die Hunde, ein paar konnten wir sehen. Aresu hat gezittert vor Angst und Anspannung und ist plötzlich losgerannt, zu den Hunden. Herr Mortasawi war sehr schweigsam, er hat die ganze Zeit kein Wort gesagt. Er und Aresu haben vermutlich mit dem Schlimmsten gerechnet. Was wir da gesehen haben, war wirklich erbärmlich. Die meisten Hunde haben verängstigt irgendwo in Ecken gehockt und uns Ankömmlinge mit ausdruckslosen Augen angeschaut. Aresu ist zwischen den Hunden umhergeirrt und hat nach Nasi gerufen. Nasi kam nicht! Gesucht und gesucht haben wir nach der Kleinen, aber da war keine Spur von ihr. Und dann schlug Aresus traurige Vermutung in unsäglichen Kummer um. Sie hat so bitterlich geweint, dass ich sie in den Arm genommen habe. Übers Haar hab ich ihr gestreichelt, hab versucht, sie zu beruhigen. Sie war untröstlich. Kaum hatte ich ihr die Tränen von den Wangen gewischt, flossen schon neue, und ich hab sie wieder in den Arm genommen. Herr Mortasawi stand ein paar Schritte entfernt von uns, ratlos, sprachlos. Keinen Ton hat er rausgebracht. Während wir dann schweren Herzens und mit leeren Händen zum Ausgang geschlichen sind, kam eine Frau auf uns zu, mittleren Alters, auch sie ohne Hund unterwegs nach draussen, und hat uns mitfühlend angeschaut. Weil ich nicht wollte, dass Leute Aresu so schwach sehen, hab ich ihr zugeflüstert: «Sei stark!» Sie hat weiter Tränen vergossen, ein Bild des Jammers, kann ich dir sagen! Die Frau kam näher und hat Aresu angesprochen: «So beruhig dich doch, Kind. Meine Yorkshire-Terrierin hat letzte Woche vier süsse Welpen bekommen. Ich schenk dir einen.» Aresu hat den Kopf von meiner Schulter gehoben, wohl, weil sie sehen wollte, wer da so grosszügig sprach, und hat, noch schluchzend, gesagt: «So ein Zufall. Ich habe eine kleine Yorkshire-Hündin verloren.» Herr Mortasawi hat sich bedankt, die Frau hat Aresu die Hand auf den Arm gelegt und «Versprochen!» gesagt. Unterwegs zum Ausgang haben wir den Polizisten, der in dem langen Gang auf und ab ging, gefragt: «Was ist denn mit unserem Hund passiert?» Und er hat geantwortet, als sei das ganz normal: «Hier sterben jeden Tag Hunde, die Leute kommen und holen die Kadaver ab.» «Und wohin bringen sie die toten Tiere?», hat Aresu mit tränenerstickter Stimme gefragt. «Die begraben sie in einem Erdloch, glaub ich», hat der Polizist geantwortet und die Hand gehoben, um anzudeuten, wie weit die Grube weg ist. Das war’s. Mehr gab es nicht zu fragen. Wir sind müde und niedergeschlagen ins Auto gestiegen und haben uns von Herrn Mortasawi heimfahren lassen.

All das ist jetzt zwei Monate her. Ich sehe Aresu hin und wieder, sie ist so munter und guter Dinge wie eh und je und wirkt noch besser gelaunt, wenn sie ihre beiden Hunde dabeihat. Einer ist das versprochene Geschenk der Frau aus dem Hundecamp, der andere ein hübscher Bichon Frisé, den ihr Vater ihr gekauft hat. Bei unserer letzten Begegnung war sie mit den beiden auf dem Weg ins Freie. Zum Spass habe ich sie damals gefragt: «Hast du deinem Vater nicht versprochen, mit deinen Hunden nicht mehr Gassi zu gehen?» Unerhört selbstbewusst und wie aus der Pistole geschossen hat sie mir geantwortet: «Das hab ich ihm für den Hund versprochen, den sie uns nicht mal tot zurückgegeben haben. Für die beiden Kleinen hier nicht.» Ich sah sie an, dachte: Erstaunlich schlagfertig, daran hat meine Frau wohl einigen Anteil, und nickte beifällig. Um zu zeigen, wie wütend sie war, sagte Aresu, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt: «Die Polizei macht mir jetzt keine Angst mehr. Wenn sie mir meine beiden Süssen wegnehmen wollen, kriegen sie’s mit mir zu tun.» Sie zeigte mir die Spraydose, die sie bei sich trug: Betäubungsspray! Sie lachte triumphierend, verabschiedete sich von mir und entschwand, würdevoll und stolz wie eine Königstochter, mit ihren zwei kleinen Begleitern in der Abenddämmerung.

 

Amir Hassan Cheheltan (Text)
Friederike Hantel (Illustration)
Aus #61 / November 2021

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