reportagen 2023

Herr M., 72 Jahre alt, war in der Teheraner Tabakfabrik tätig und ist nun Pensionär. Er lebt mit seiner Frau in einem kleinen Haus im Süden der Hauptstadt. Herr M. ist das, was man gemeinhin einen Morgenmuffel nennt. Unleidlich und gereizt, fährt er bei jeder Kleinigkeit aus der Haut.

Jeden Morgen steht er pünktlich um 6 Uhr 30 auf, zieht sich seinen Nadelstreifenanzug an, setzt seinen Hut auf, schliesst die Haustür hinter sich und achtet beim Gehen darauf, nicht in die Pfützen auf dem Bürgersteig zu treten. Dem Streifenpolizisten seines Viertels, der sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten kann und, auf sein Einsatzende harrend, an einem Strommast lehnt, wünscht Herr M. leise «Guten Morgen» und betritt kurz darauf die Bäckerei der Nachbarschaft.

Der Bäcker, Herr D., sieht Herrn M. an, dass er verdriesslich ist, und will ihn mit ein paar freundlichen Worten aufmuntern. Herr M. durchschaut das kleine Manöver. So leicht lässt er sich seine schlechte Laune nicht nehmen. Herr D. greift nach einem Fladen Brot der Sorte, die Herr M. immer kauft, mit Sesam und anderen Samen bestreut, packt das Brot in eine Papiertüte und wechselt unterdessen, wie jeden Tag, ein paar Worte mit Herrn M. «Sehr ärgerlich, die Fernsehnachrichten gestern Abend», sagt Herr D. «Gibt's denn auf der ganzen Welt niemanden, der Herrn Putin fragt: ‹Was soll das? Eine bis an die Zähne bewaffnete Armee auf ein unschuldiges Land loslassen − wozu?›?» Worauf Herr M. entgegnet: «Wenn's auf der Welt mit rechten Dingen zuginge, wären wir jetzt alle besser dran.»

Herr M. trägt sein noch warmes Brot nach Hause und geht unverzüglich in die Küche, um Tee zu machen. Der gelehrige Papagei in seinem goldenen Käfig am Küchenfenster begrüsst Herrn M. krächzend: «Guten Morgen, mein Herr und Meister!» Der Papagei hat grossen Einfluss auf die Stimmung seines Herrn und Meisters, er plappert so lange weiter, bis Herrn M.s üble Laune schliesslich verfliegt.

Unterdessen steht Frau M. auf und geht ins Bad. Dort bleibt sie so lange, bis ihr Mann den Frühstückstisch gedeckt hat. Als sie in die Küche kommt, bringt Herr M. seinem Papagei gerade einen Vers des grossen persischen Dichters Hafis bei. Wann immer Herr M. eine kurze Atempause macht, sagt der Vogel: «Bravo, Herr und Meister, gut gesagt!» Herrn M.s Frau giesst sich ein Glas Tee ein und setzt sich vorfreudig zu Tisch. Das Frühstück, frisches, warmes Brot, Schafskäse und süsser Tee, ist ihre tägliche Lieblingsmahlzeit.

Herr M. beendet seine Lehrstunde, setzt sich zu seiner Frau und erzählt ihr von seinem kurzen Gespräch mit dem Bäcker über die russische Militärinvasion in die Ukraine. Seine Frau sagt: «Die Menschen in der Ukraine, die jetzt aus ihren Häusern vertrieben werden, müssen oft notgedrungen ihre Haustiere zurücklassen. Die armen Geschöpfe irren dann obdachlos durch die Strassen und verhungern irgendwann.» Woraufhin der Papagei krächzt: «Bravo, meine Dame, gut gesagt.» Frau M. lacht und hat Grund zur Freude. An diesem Tag hat der Papagei sie zum ersten Mal «meine Dame» genannt und sie erstmals gelobt.

Nach dem Frühstück nimmt Herr M. den Käfig tief bewegt vom Haken an der Küchendecke und trägt ihn nach draussen ins morgensonnige Gärtchen.


Von Amir Hassan Cheheltan




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