Im August 1968 besetzte die sowjetische Armee die Tschechoslowakei und setzte damit den Schlusspunkt hinter die Freiheitsbestrebungen der Regierung Dub ček in Prag. Das bewegte dort einige Studenten zu dem Schwur, sich aus Protest gegen den Einmarsch zu verbrennen, und das nacheinander. Jan Palach, zwanzigjährig, machte den Anfang. Am 16. Januar 1969 setzte er sich auf dem Prager Wenzelsplatz in Brand und erlag drei Tage später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Der Trauerzug, der größte, den Prags Straßen je gesehen hatten, wurde zu einem eindrucksvollen Protestmarsch gegen die Besatzung.
Zwischen dem 15. und 21. Januar 1989 läuteten dann Großdemonstrationen zum Gedenken an Palachs zwanzigsten Todestag das Ende des Kommunismus in der Tschechoslowakei ein. Für viele galt d ie Tat des Studenten als e in Schlüsselereignis in der Reihe von Vorkommnissen, die letztlich zum Fall des Eisernen Vorhangs in Europa führten.
Zwischen Prag und der iranischen Stadt Ahwaz in der Ölförderprovinz Khusestan liegen viele Kilometer. Und die Ideale der jungen Generation haben sich seit 1968 und 1989 verändert, ihre Ziele sind bescheidener geworden.
Während Jan Palach in Prag sich wegen des Übergriffs fremder Truppen auf seine Heimat verbrannt hatte, tat Ahmad Baldi – a uch er Student und mit 21 in Jan Palachs Alter – dasselbe in Ahwaz aus Protest gegen Übergriffe von Beamten auf den Lebensmittelkiosk, der das Überleben seiner achtköpfigen Familie seit Jahren garantiert hatte. Ja, die Ziele sind bescheidener geworden, ihr Kern aber birgt eine un veränderte Forderung: Lasst uns leben!
Noch mehr Ähnlichkeiten gibt es zwischen Ahmad Baldis Suizid und dem des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, an den viele Menschen in Iran denken, wenn sich jemand aus Protest selbst verbrennt. Auch Ahmad Baldi hat sich aus Protest gegen die Beschlagnahme seiner Waren – d e facto ein Betriebsverbot – und die Demütigung durch einen der Vollzugsbeamten vor dem Rathaus s elbst angezündet. Hier endet indes die Ähnlichkeit b eider Fälle. Denn Bouazizis Verzweiflungstat setzte in Tunis 2011 eine Revolution in Gang und brachte so die damals seit 23 Jahren a mtierende Regierung von Präsident Z ine el-Abidine Ben Ali zu Fall.
Die Geschichte von Ahmad Baldis Tod beginnt am späten Nachmittag des 3. Novembers 2025, als Kommunalbeamte den Lebensmittelkiosk seiner Familie in einem Park der Stadt leer räumen. Als Ahmad dort eintrifft, versucht er ver geblich, die Aktion zu unterbinden. Laut Presseberichten und nach Aussage seines Vaters betritt der Sohn den Kiosk durch die hintere Tür und sagt, als die Beamten die Stromversorgung kappen: „Aus Protest gegen Ihr Vorgehen werde ich mich selbst verbrennen!“ Die Beamten verhöhnen ihn: „Tu dir keinen Zwang an. Lass sehen, wie du brennst.“ Einer legt voller Spott nach: „Willst du Streichhölzer oder ein Feuerzeug?“ N eun Tage nachdem er sich vor dem Rathaus von Ahwaz angezündet hat, stirbt er an seinen Verbrennungen.
Ein Freund Ahmads schilderte Journalisten später: „Ich kam dort an und sah seinen verbrannten Körper nackt am Straßenrand liegen. Seine Kleider waren im Feuer verbrannt, und als die Beamten ihn in ihren Lieferwagen p acken wollten, traf der Krankenwagen ein.“ Ein weiterer Augenzeuge berichtete: „Als der junge Mann sich angezündet hatte, wollten Leute die Flammen löschen und ihm helfen, aber die Beamten haben niemanden in seine Nähe ge lassen. ,Fassen Sie ihn nicht an‘, haben die Leute gefordert, ,warten Sie auf den Notarzt!‘, aber das hat die Beamten nicht interessiert, sie haben Ahmad weggeschleppt und wollten ihn in ihren Lieferwagen verfrachten.“
Zur Besänftigung der aufgebrachten Bevölkerung verkündete der Staats anwalt von Ahwaz Tage später, man habe den Bürgermeister festgenommen. Doch die Stadtverwaltung veröffentlichte umgehend ein Video, das den Bürgermeister am Rande einer Versammlung zeigte, was die Aussage des Staats anwalts dementiert.
In Iran ist Ahmad Baldi nicht der einzige, der sich aus Protest selbst verbrannt hat. In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es mehrere solcher Fälle. Sahar Khodayaris Selbstverbrennung im Sommer 2019 zählt zu den bekann
testen: Sie fand in Iran und international derart großen Widerhall, dass die Regierung gezwungen war, betreffs der ursprünglichen Forderung der jungen Frau einzulenken.
Sahar Khodayari, in Irans sozialen Medien bald als das „Blaue Mädchen“ bekannt, war eine glühende Anhängerin der iranischen Fußballmannschaft Esteghlal Teheran. 2019 war es Frauen aber noch verboten, Stadien als Zuschauerinnen zu betreten. Deshalb traf Sahar Khodayari eine Entscheidung, die sie zwar das Leben gekostet, für die Allgemeinheit aber einen nicht zu unterschätzenden Erfolg erzielt hat. Im März 2019 versuchte sie, als Mann verkleidet, ins Stadion zu gelangen, als das Spiel ihrer Lieblingsmannschaft gegen ein Team der Vereinigten Arabischen Emirate anstand. Die Ordnungskräfte durchschauten ihre Verkleidung und verhafteten Sahar. Zwei Tage später kam sie auf Kaution frei. Als sie bei Gericht erschien, um ihr Mobiltelefon abzuholen, das man zum Kopieren ihrer Daten einbehalten hatte, erfuhr sie, dass die ihr drohende Haftstrafe wegen des Versuchs, sich unerlaubt Zutritt zum Stadion zu verschaffen, sechs Monate bis zu zwei Jahre betragen konnte. Nachdem sie das gehört hatte, zündete Sahar sich vor dem Teheraner Revolutions gericht selbst an.
Der Presse wurde untersagt, das „Blaue Mädchen“ im Krankenhaus zu besuchen. Sahar hatte sich neunzig prozentige Verbrennungen zugezogen, denen sie nach einigen Tagen schließlich erlag. Neben vielen national und international bekannten Größen aus der Sportwelt reagierten internationale Organisationen auf Sahars Selbstverbrennung, sodass sich die Regierung der Islamischen Republik W ochen nach dem Tod des „Blauen Mädchens“ g ezwungen sah, das Verbot von Zuschauerinnen in Sportstadien aufzuheben.
Nach Ansicht von Experten haben die Probleme in Iran heute ein Ausmaß erreicht, das optimistische Aussichten für Politik und Wirtschaft in den nächsten zwei Dekaden schwer vorstellbar macht. Iran steckt tief in der Misere, unter anderem wegen sich verschlechternder Umweltbedingungen, Sanktionen, anhaltenden Autoritarismus, wirtschaftlicher Rückständigkeit und der unbedeutenden Rolle, die das Land im Welthandel spielt. Das ist eine Misere, aus der das Land nicht ohne Mühen herauskommen wird; Iran ist eine „Gesellschaft ungelöster Probleme“. Dem Land stehen harte Jahrzehnte der Unsicherheit und unerfreuliche Ereignisse bevor. Im herrschenden System werden Macht und Geld unter Politikern, Militärs und Geistlichen aufgeteilt, während die B evölkerung nur sehr eingeschränkt am politischen und wirtschaftlichen Leben teilhat. Man hat ihr quasi das Bürgerrecht auf freie wirtschaftliche und politische Betätigung entzogen.
Aber den Menschen im Land bleibt nicht verborgen, was in der Welt um sie herum vorgeht. Der Rückstand bei Wachstum und Entwicklung, in den ihr Land während der vergangenen Jahre geraten ist, sorgt national für Trostlosigkeit und Enttäuschung. Perspektivlosigkeit und Verzweiflung angesichts rasch auf einanderfolgender Krisen sowie die Erfahrung, aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein und verachtet zu werden, sind die bedeutend sten Faktoren, die Menschen hierzu lande in den Suizid treiben.
Unsere Machthaber wecken nicht nur keine Zuversicht mehr, sie verstärken die allgemeine Hoffnungslosigkeit täglich noch durch ihr verheerendes, gegen das eigene Volk gerichtetes Handeln. Folglich sehen junge Menschen, Intellektuelle und Andersdenkende, die unfähig sind, die ökonomischen, sozialen und kulturellen Entbehrungen zu verkraften und die Sackgassen zu überwinden, in die die Machthaber sie führen, bisweilen nur noch den Suizid als Ausweg. Laut Statistiken werden in Iran täglich dreizehn Suizidversuche begangen, überwiegend von Menschen im A lter zwischen fünfzehn und fünfunddreißig Jahren. Aus diesen Zahlen geht auch hervor, dass im jährlichen Durchschnitt 125 von 100.000 Menschen aller Altersgruppen im Land versuchen, sich selbst zu töten. Pro Tag lassen sechs von ihnen tatsächlich ihr Leben.
In den letzten Tagen seines Lebens im Krankenhaus sagte Jan Palach zu den beiden Freunden, die sich geschworen hatten, sich nach ihm selbst zu verbrennen: „Bitte lasst es sein. Es tut höllisch weh.“ Und doch inspiriert seine Tat noch heute junge Menschen – weil sie keinen anderen Ausweg aus Unterdrückung und Ungerechtigkeit mehr sehen als den, sich zu opfern, auf die schmerzhafteste Art, durch Selbstverbrennung.
Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.
Amir Hassan Cheheltan lebt in Teheran. Sein jüngster Roman, „Die Rose von Nischapur“, erschien bei C. H. Beck