FAZ7March2022 1

Mona Heidari war erst siebzehn, als ihr Mann sie am Abend des 7. Fe­bruar abends enthauptet und ihren Kopf mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen durch die Straßen der Nachbarschaft getragen hat. Die Bluttat geschah in Ahwas, im Zentrum der Ölprovinz Khusestan im Süden Irans. Den Körper der jungen Frau fand man kurz darauf unweit eines öffentlichen Platzes.

Die Tat stellt keine Ausnahme dar. Eine Untersuchung beziffert die Anzahl der in den vergangenen zwei Jahren hierzulande begangenen Ehrenmorde auf zwanzig. Während nach offiziellen Verlautbarungen ein Fünftel aller in Iran begangenen Morde unter Verwandten Ehrenmorde sind, sagen Experten, dass bei mehr als der Hälfte dieser Fälle die Ehre eine Rolle spielt. Einer unabhängigen Studie zufolge kostete allein in der Provinz Khusestan in den letzten zwei Jahren verletztes männliches Ehrgefühl sechzig Frauen, darunter elf unter sechzehn Jahre alt, das Leben. Dabei spiegeln diese Zahlen das Ausmaß des Phänomens nicht wider, weil nicht alle Morde dieser Art zur Anzeige gebracht werden. Ihre Häufigkeit ist durch polizeiliche Erkenntnisse belegt. Ein Soziologe erklärt, dass wirtschaftliche Not sonst eigentlich im Rückgang befindlichen Gewohnheiten wieder Vorschub leistet, wobei auch die Gewalt gegen Frauen zunimmt.

Wer ist schuld daran? Eine auf der Kultur des Patriarchats fußende Gesellschaft, in der die Frau als des Mannes Eigentum gilt? Oder das politische System, das diese patriarchalen Grundpfeiler stützt und stärkt?

Die Schwiegermutter der ermordeten Mona hat gegenüber einem Korrespondenten der iranischen Nachrichtenagentur Fars behauptet, die junge Frau sei eines Tages in die Türkei gereist und habe dort einen Syrer geheiratet, also eine zweite Ehe geschlossen. Verwandte und Freunde ihres Sohnes, so die Schwiegermutter, hätten daraufhin an dessen Ehrgefühl und Männlichkeit appelliert. „Mein Sohn hat Monas abgeschlagenen Kopf weithin sichtbar durch die Straßen getragen, um allen zu sagen: ,Schaut her, ich bin kein ehrloser Mensch!‘“


In den sozialen Medien Irans stieß der Mord an Mona zwar auf große Betroffenheit. Doch es gibt ernsthaft zu denken, dass die Nachricht von dieser grausamen Gewalttat in der täglichen Flut von Nachrichten über hohe Lebenshaltungskosten, galoppierende Inflation, Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption und Unterschlagungen in Milliardenhöhe bald wieder unterging. Lässt solch rohe Gewalt die Menschen kalt? Ist die Gesellschaft gefühllos geworden, abgestumpft und außerstande, angemessen darauf zu reagieren?


Monas Mann, der den abgeschlagenen Kopf seiner Frau wie eine Trophäe zur Schau stellte, rief Bilder jener Gräueltaten wach, die Anhänger des „Islamischen Staats“ vor laufenden Kameras begangen haben. Die entsprechenden Videos, unzensiert im Internet verfügbar, fanden weite Verbreitung. Dass ungezügelte rohe Gewalt heute derart alltäglich wird, weckt Erinnerungen an lange überwunden geglaubte Barbarei.
Soziologen und Sozialreformer weisen beständig darauf hin: Gewalt ist in Iran allgegenwärtig. Sie greift um sich und zersetzt alle sozialen Fundamente. Auf die Frage, wie sie sich in der iranischen Gesellschaft ausbreitet, gibt es mehrere Antworten. Das schreckliche Phänomen hat inzwischen jedenfalls derart große Ausmaße angenommen, dass zu befürchten steht, ungehemmte Gewalt könnte zu einer Lebensweise werden. Muss man die Ursache dafür nicht in einer Regierung sehen, die seit ihrem ersten Tag an der Macht Gewalt ausgeübt und Höchststrafen gegen ihre Gegner verhängt hat?


Vor 43 Jahren stieß die Welle der Hinrichtungen von Angehörigen des damals gestürzten Schah-Regimes nur auf geringe öffentliches Echo. Kaum zwei Jahre später
änderte auch die Hinrichtung von politischen Gegnern, die 1979 noch zum Sturz des Schahs beigetragen hatten, an der Gleichgültigkeit gegenüber gewaltsamen Toden nichts. Die Gewalt kulminierte dann im Sommer 1988, als Tausende zu lebenslanger Haft verurteilte politische Gefangene sich infolge einer Entscheidung der Regierung plötzlich zum Tod durch den Strang verurteilt sahen. Im Laufe des achtjährigen Kriegs zwischen Iran und seinem Nachbarn Irak (1980 bis 1988) war der Tod alltäglich geworden. Seinen Schrecken büßte er dadurch ein, dass die Propaganda die Gewalt an den Hunderte Kilometer langen Fronten zur heiligen Sache erklärte.


Auch
wenn zerfetzte Leichen nicht öffentlich zur Schau gestellt wurden, hatten genügend Augenzeugen sie gesehen, und diese Eindrücke taten ihr zerstörerisches Werk. Gewalt hat die Fundamente der iranischen Gesellschaft befallen wie Termiten einen Holzpfeiler. Nach vier Dekaden gewaltgeprägter Herrschaft sind die Menschen im Land heute erschöpft, nervös, angespannt, reizbar. Streitsucht und die Bereitschaft zu verbaler oder tätlicher Gewalt dringen auch aus den Gefängnissen nach draußen, sickern in die Gesellschaft ein und vergiften sie schleichend. Mit der Zeit treffen selbst Morde kaum mehr einen Nerv in der Gesellschaft. Sie berühren die Menschen, wenn überhaupt, nur noch flüchtig und motivieren sie nicht mehr zur Suche nach Lösungen gegen die Gewaltbereitschaft. Wer sich ohnmächtig fühlt und sich angesichts schwindelerregender Inflation und stetig steigender Preise um seinen Lebensunterhalt sorgen muss, der hat weder Platz für Moral im Allgemeinen noch für Tugenden wie Toleranz, Vergebung oder Vergessen im Besonderen. Das gravierendste Indiz für offen ausgeübte Gewalt in Iran war der Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine im Januar 2020 im Luftraum über Teheran. Alles deutet darauf hin, dass diese Gewalttat begangen wurde, um die Vereinigten Staaten von einem Gegenangriff abzubringen, nachdem nur wenige Stunden vor dem Flugzeugabschuss Iran amerikanische Militärbasen im Irak unter Beschuss genommen hatte.

Was wissen wir über Mona Heidaris Leben? Sie war wie gesagt siebzehn, als sie ermordet wurde. Wie alt war sie bei ihrer Hochzeit? Vierzehn! Vor ihrem gewalttätigen Mann floh sie oft zu den eigenen Eltern, doch dort war sie immer wieder abgewiesen und in die eheliche Wohnung zurückgeschickt worden. So erschien ihr eine Flucht in die Türkei schließlich als letzter Ausweg. Dort spürten ihr Vater und ihr Onkel sie auf, wiegten sie in trügerischer Sicherheit, dass ihr kein Haar gekrümmt würde. bewegten sie zur Rückkehr nach Iran – und opferten sie damit. Zivilgesellschaftliche Einrichtungen und Menschenrechtsorganisationen weisen seit Jahren auf das Problem hin. Mit Kinderehen will die iranische Regierung für Bevölkerungswachstum sorgen. Opfer von Ehrenmorden sind oft schon im Kindesalter verheiratete Frauen aus unteren sozialen Schichten. Entsetzlich ist zudem, dass die Täter fast immer ungestraft davonkommen und auch wissen, dass sie nichts zu befürchten haben. Meist erscheint nicht einmal die kleinste offizielle Meldung darüber, dass solche Taten angemessen geahndet wurden.

Konfrontiert mit den in einer patriarchalen Gesellschaft wurzelnden Gesetzen, können um Aufklärung über Ehrenmorde bemühte gesellschaftliche Akteure nur wenig ausrichten. Zugleich bindet die systematische Zensur die Hände von Journalisten und Künstlern, die offenlegen wollen, wie tief Gewalt die Gesellschaft durchdringt. Ein Kinofilm, der das Thema künstlerisch aufzuarbeiten suchte, war ein ganzes Jahrzehnt lang beschlagnahmt und nicht öffentlich zu sehen. Kurz nach Aufhebung des Ausstrahlungsverbots beschlagnahmten staatliche Stellen das Werk abermals und gingen gerichtlich gegen die Regisseure vor.

Was tut die Regierung? Offiziell wird beteuert, Ehrenmorde böten keinen Anlass zur Sorge, und juristische Kontrollmechanismen seien zur Genüge vorhanden. Wer die gesellschaftlichen Zustände in Iran kennt, weiß, dass dem nicht so ist. Schlimmer noch: Man versucht, Ehrenmorde als unausweichliche, in geistiger Verwirrung oder im Affekt begangene Taten herunterzuspielen. Weder wird die patriarchale Struktur und Kultur der Gesellschaft thematisiert, die solchen Taten den Boden bereiten, noch gibt man zu, dass bestehende Gesetze keine abschreckende Wirkung haben. Die einzige offizielle Reaktion auf den Mord an Mona bestand im Verbot, Bilder und Videoaufnahmen der Ereignisse rund um die Tat zu zeigen. Ein Nachrichtensender, der sich nicht an dieses Verbot hielt, musste seinen Betrieb einstellen. Man befand also die Veröffentlichung von Bildmaterial als der geistigen Gesundheit der Gesellschaft abträglich! Hat man aber irgendwelche Schritte unternommen, um solche Katastrophen künftig zu verhindern?


Eine Parlamentarierin erklärte nach der Tat, es sei kein Gesetz in Kraft, das den Schutz von Frauen effektiv garantiere. Ein Gesetzentwurf, betitelt „Zur Wahrung der Würde und zum Schutz von Frauen vor Gewalt“, wartet seit mehr als zehn Jahren auf seine Ratifizierung.


Laut dem Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen sterben weltweit jährlich mehr als fünftausend Frauen und Mädchen durch Ehrenmorde. Begangen, um Schandflecken oder Schuld zu tilgen und verletzte Familienehre wiederherzustellen. Einer mit Unterstützung des UNO-Entwick-lungsprogramms durchgeführten Studie zufolge beantworteten siebzig Prozent der Befragten im türkischen Istanbul die Frage, was Ehre sei, so: Die Frau ist eines Menschen Ehre.


Können oder wollen die hiesigen Institutionen, die über so wichtige Werkzeuge wie Radio, Fernsehen und das Erziehungs- und Bildungssystem verfügen, durch Schaffung entsprechender kultureller Grundlagen die Gesellschaft so verwandeln, dass die Frau nicht länger als die Ehre des Mannes, nicht länger als ein vom Mann abhängiges, auf Gedeih und Verderb an ihn gebundenes Wesen, sondern als eigenständiger verantwortungsbewusster Mensch gilt? Noch zählt Iran jedenfalls zu jenen vier Ländern, die das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau nicht unterzeichnet haben.

 

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Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.
Amir Hassan Cheheltan lebt in Teheran.
Sein Roman „Eine Liebe in Kairo“ erscheint
Mitte März bei C. H. Beck.