Seit Jahren sind Präsidentschaftswahlkämpfe in Iran vor allem deutliche Zeichen einer Krise. Deren Darsteller sind ausgerechnet die Präsidentschaftskandidaten in den Reihen der Konservativen. Aus ihren Worten zieht der neutrale Beobachter den ersten Schluss, dass die Gesellschaft sich in einer politischen Legitimitätskrise befindet.
Dass sich in diesem Jahr mehr als 1636 Bewerber für die Wahlen registriert haben, stellt einen neuen Rekord und gewiss auch einen der Höhepunkte dieser Krise dar. In einer Massengesellschaft, die am Mangel politischer Parteien leidet, beruht die Teilnahme an Wahlen auf der Auswahl und Entscheidung von Einzelpersonen. Diesmal war der jüngste Bewerber achtzehn, der älteste 92 Jahre alt. Ein Ehepaar, in Begleitung seiner zwei kleinen Kinder erschienen, erklärte, man habe sich gleich zu viert registriert. Auch die Einfältigen haben in Iran ihren Kandidaten, während die Scharlatane über mehr als einen Vertreter verfügen.
Hinrichtung Tausender
Vor Wochen bezeichneten einige Zeitungen die Tatsache, dass Ebrahim Raissi, der Leiter des Imam-Reza-Schreins, der größten schiitischen Pilgerstätte in Iran, für das Präsidentenamt kandidiere, als Wahlschock. Raissi genießt zwar die Unterstützung der wichtigsten Vertreter der konservativen Fraktion, kann aber weder praktische noch internationale Erfahrung vorweisen. Davon abgesehen, zählt er zu einem Dreiergespann, das im Sommer 1988 den Auftrag hatte, sich um die politischen Gefangenen in iranischen Haftanstalten zu kümmern. Dieses Kümmern gipfelte damals in der Hinrichtung mehrerer tausend Häftlinge.
Der wirkliche Schock aber bestand darin, dass Mahmud Ahmadineschad, der ehemalige Präsident der Republik, und sein Sekundant mit ihrer Kandidatur die diesjährigen Präsidentschaftswahlen zu einem höchst verworrenen Politspiel machten. Nach ihrer Registrierung hieß es aus Justizkreisen, gegen beide Kandidaten seien Verfahren anhängig. Mit der Anmeldung des amtierenden Präsidenten Hassan Rohani und seines ersten Stellvertreters, Vizepräsident Eshagh Dschahangiri, war die Liste so gut wie vollständig, und die Kommentatoren machten sich an die Arbeit.
Hart und erbarmungslos
Ein Konservativer unter ihnen sah auf Raissis Weg zur Präsidentschaft erhebliche Hindernisse etwa in den absehbaren Manövern seiner Kontrahenten im Hinblick auf seine aktenkundige Vergangenheit, die ihn hart und erbarmungslos erscheinen lässt. Dass Ahmadineschad und sein Sekundant auf den Plan getreten waren, sah dieser Kommentator als weitere Hürde an.
Er führte aus: „Ahmadineschad wird mit seiner in Gang gesetzten Maschinerie (sofern niemand sie unterwegs abschaltet) Raissi keine Gelegenheit zur Selbstdarstellung geben. Vor den Wahlen wird er wöchentlich einen Nachrichten-Elefanten losschicken, der so viel Staub aufwirbelt, dass Raissi hinter dieser Wolke verschwindet. Es wird ein Spiel zwischen zwei Polen, und einer der beiden Pole wird zweifellos Ahmadineschad sein. Als sein Team auf der Bildfläche erschien, wurde aus diesen Wahlen ein Action-Film, von dem unklar ist, ob er als Komödie oder als Tragödie endet!“
Dass Ahmadineschad auf den Plan trat, war für manche Anlass zur Sorge, die Wahlen könnten eine radikale Wendung nehmen und entsprechend unruhig und ungesund verlaufen. Vor zwei Jahren hatte der Innenminister von der Aufwendung ungesunder Gelder im Rahmen der Parlamentswahlen gesprochen. Die unsichere Lage in der Region verstärkte diese Sorgen noch. Folglich gab der Chef der Streitkräfte den Einsatz von 30 000 Polizisten in der Wahlkampfarena bekannt. Zudem ließ ein ranghoher Verantwortlicher in Anspielung auf die Grüne Bewegung verlauten, das Volk werde eine Wiederholung der Unruhen des Jahres 2009 nicht zulassen.
Wahlkampf mit Schattenkandidat
Mit der Gründung der Volksfront revolutionärer Kräfte verfolgten die Konservativen die Absicht, Raissi als ihren einzigen Kandidaten ins Feld zu führen. Angesichts der deutlichen Neigung des amtierenden Bürgermeisters von Teheran, für das Präsidentenamt zu kandidieren – obgleich Mohammad-Bagher Ghalibaf wenige Tage vor seiner Anmeldung erklärt hatte, er hege kein solches Interesse –, sahen sie sich jedoch veranlasst, ihren Plan zu überdenken. Nach Ghalibafs Aufstellung sagten manche, er sei Raissis Schattenkandidat. Der Schattenkandidat einer politischen Gruppierung geht zwar mit ins Rennen, zieht seine Kandidatur vor der Wahl aber in letzter Minute zurück; seine Wahlkampfauftritte dienen, insbesondere bei Fernsehdiskussionen, der Schützenhilfe für den Hauptkandidaten der jeweiligen Bewegung. Unter diesem Aspekt ist auch die Aufstellung des Vizepräsidenten Eshagh Dschahangiri zu betrachten, der kandidiert, um den amtierenden Präsidenten zu unterstützen, wenn es auf die Darlegung und Erläuterung von Programmen, Leistungen und Errungenschaften der Regierung ankommt.
Dass Ghalibaf der Konservativen zweite Wahl ist, bedeutet nicht zwingend, dass sie ihn im letzten Moment auffordern werden, sich zugunsten Raissis zurückzuziehen. Vermutlich, so ließen einflussreiche Stimmen unter den Konservativen wissen, bleibe er bis zum Ende der Kampagne mit auf der Bühne des Geschehens; die Konservativen sind sich nicht sicher, ob ihre erste Wahl, Raissi, der Sache gewachsen ist.
So ist also Ghalibaf Raissis Schattenkandidat und Dschahangiri der von Rohani. Hamid Baghai war wohl als Ahmadineschads Schattenkandidat gedacht und umgekehrt. Prügelknabe, Partner im Hintergrund oder Zusatzkandidat werden diese strategischen Verbündeten auch genannt und suggerieren zumindest, dass man eine Wahlkampftaktik hat.
Kein Wunder hilft
Fünf Tage nach Abschluss der Registrierung veröffentlichte der Wächterrat die Liste der qualifizierten Kandidaten. Sie umfasste nur sechs Personen. Mahmud Ahmadineschad und sein Assistent waren nicht darunter. Zugleich war Meldungen zufolge in Ahmadineschads Wohngegend ein beachtliches Polizeiaufgebot zu beobachten. Nach seiner Disqualifizierung ließen einige Konservative verlauten: „Wir sind erleichtert.“
Unter den sechs zugelassenen Kandidaten spielen im Grunde nur vier eine wichtige Rolle: Raissi, Ghalibaf, Rohani und Dschahangiri. Die beiden anderen haben rein formelle Funktion. Selbst ein Wunder könnte ihre Position nicht verbessern.
Und so hat der Wahlkampf begonnen. Erste Stimmen aus dem Stadtrat erhoben Einspruch gegen die Wahlkampfreisen des Teheraner Bürgermeisters und erklärten, ein Bürgermeister habe keinen Urlaub. Dem Gesetz nach hätte Ghalibaf beim Stadtrat Urlaub beantragen müssen, was er natürlich nicht tut. Davon abgesehen, hätten die in seinem Wahlkampfstab tätigen Mitarbeiter des Bürgermeisteramts zuvor von sich aus kündigen müssen.
„So viele Waffen produziert wie sonst in zehn Jahren“
Die kleinen und großen Einschränkungen und ihre Tücken haben den real verfügbaren Raum beider Streitparteien zum virtuellen hin verschoben, und beide Seiten bezichtigen einander des Missbrauchs dieses virtuellen Raumes. Dabei bietet offenkundig der freie, säkulare, virtuelle Raum das natürliche Umfeld für die Entstehung oppositioneller Kräfte gegen die Islamische Republik, weshalb die Konservativen den Reformern zum Vorwurf machen, die eigenen Kandidaten im Vorfeld der Wahlen durch die Anmietung von Servern und massive Online-Kampagnen zu unterstützen. Andererseits versuchen die Reformer, Angst vor schlimmeren Schattenkandidaten zu schüren und die Wähler so zur Stimmabgabe zu motivieren. Wer aber des Spiels der Entscheidung zwischen Regen und Traufe überdrüssig ist, sieht nur die Möglichkeit, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, indem er das Spiel verdirbt und gar nicht wählen geht.
Der Präsident der Republik erklärte in seiner ersten Wahlkampfrede: „Im Jahr 2013 und zu Beginn meiner Amtsführung haben wir sechs Millionen Weizen eingeführt, während wir im vergangenen Jahr drei Millionen Tonnen Weizen hätten ausführen können. Zugleich haben wir in den letzten dreieinhalb Jahren so viele Waffen produziert wie sonst in zehn Jahren.“ Und unter diesen Voraussetzungen saßen die Bewohner der Hauptstadt am 28. April, Freitagabend, zu Hause vor ihren Fernsehern, um die erste Diskussionsrunde der Kandidaten zu verfolgen.
Gebt ihr uns eure Stimme, geben wir euch Geld: Manche Kandidaten versprechen der Bevölkerung die Verfünffachung von Subventionen. Dabei geht es um eine Art Zuschuss zu den Lebenshaltungskosten, der der Bevölkerung seit Ahmadineschads Amtszeit zuteil wird. Weder durch die Schaffung von Arbeitsplätzen noch durch die Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens generiert, sondern Erdölgeld. Diese Unterstützung zu verfünffachen hieße: Das Gesamtbudget des Landes würde in Form von Subventionen verteilt!
Präsident nicht ranghöchster Entscheider
Auch diesmal brachten derlei Enthüllungen wieder die Erkenntnis, dass nicht der politische Gegner, sondern die bestehende politische Ordnung in der Kritik steht. Bei fehlender freier Presse während der Wahlkämpfe gestanden die Kandidaten selbst so manches ein, wobei jedes einzelne dieser Geständnisse ausreichen würde, um die Ineffizienz des Systems zu beweisen. Ghalibaf, der Kandidat der Konservativen, erwähnt, dass arme Menschen sich gezwungen sehen, ihre Nieren zu verkaufen, und weist darauf hin, dass mindestens zehn Prozent der Bevölkerung sich kein Abendbrot leisten können und hungrig zu Bett gehen; er gestand, dass etwa ein Drittel der Menschen in Großstädten am Rande dieser Städte in Wellblechhütten und Elendsvierteln lebt. Auch sagte er, Drogenabhängigkeit, Scheidungen, Armut, Arbeitslosigkeit, Teuerung und wirtschaftliche Stagnation plagten die Gesellschaft.
Der Präsident der Republik müsste das Auftreten solcher Probleme verhindern, doch alle wissen, in Iran ist der Präsident der Republik praktisch nicht der ranghöchste Entscheidungsträger. Und wahrscheinlich hat Ahmadineschad genau deshalb in seinen Interviews vor seinem Ausscheiden aus dem Rennen die Änderung der politischen Struktur des Landes zur Sprache gebracht.
Politische Posten als göttliche Sache
Am Tag vor Beginn der Fernsehdebatten bat ein einflussreicher Ajatollah in Ghom die Teilnehmer zwar, keine Lügen zu verbreiten und keine falschen Versprechungen zu machen. Zugleich aber mischte sich auch der Vorbeter des Freitagsgebets in Teheran ein und warnte die Kandidaten eine Stunde vor Beginn der Übertragung: Äußerungen, die die politische Ordnung des Landes schwächten, seien verboten. Normalerweise aber sind die zu jeder Wahl zugelassenen Kandidaten hochrangige Verantwortungsträger, die im Laufe eines Wahlkampfs plötzlich und vorübergehend zu dem Schluss gelangen, man dürfe die Wahrheit nicht verbergen. Da sie die Übernahme politischer Posten als eine göttliche Sache betrachten, geraten sie in den Zyklus eines der irdischen politischen Konkurrenzkämpfe, inklusive falscher Versprechungen, wiederholter Tricks und Mauscheleien zur Verdrängung von Kontrahenten. Über die gesamte Wahlkampfperiode hinweg bezichtigen so gut wie alle Beteiligten ihre Mitbewerber der Lüge. Durch solche Niederungen führt in Iran der Kampf um die Erfüllung göttlicher Pflichten und um den Eintritt ins Paradies.
Aus dem Farsi übersetzt von Jutta Himmelreich.
BY : F.A.Z