Der Mut der Frauen inspiriert die Männer: Die Proteste in Iran zeugen von der tiefen Kluft zwischen Gesellschaft und Regierung. Sie markieren einen Wendepunkt auf dem Weg zur Freiheit.
Mahsa Aminis Tod in iranischem Polizeigewahrsam liegt kaum drei Wochen zurück. Die durch ihn verursachte Krise hält an. Die Proteste ebben nicht ab und verlaufen oft blutig. Die Stadt Sahedan in der Provinz Belutschistan erlebte Ende September einen der blutigsten Protesttage. Offiziellen Angaben zufolge starben zwanzig Menschen. In Sahedan ist man überzeugt, dass die Opferzahl wesentlich höher liegt. Weltweit fanden am ersten Oktober dieses Jahres in 150 Städten Solidaritätskundgebungen statt, und die Sitzstreiks an 110 iranischen Universitäten zeigten eine weitere Dimension der Bewegung.
Doch wie soll man das, was sich in Iran vor aller Augen ereignet, bezeichnen? Ist es ein feministischer Aufstand? Oder die Vorstufe einer Revolution, mit Frauen an vorderster Front? Wie kommt es, dass der Name einer Frau, Mahsa Amini, quasi zum Schlachtruf dieser Bewegung wurde? Erhebt sich dieser Tage eine neue Stimme in unserem Land? Eine Stimme, die unsere iranische Welt auf den Kopf stellen will?
„San, Sendegi, Asadi – Frau, Leben, Freiheit!“
Wenn die mutigsten Anstöße zu dieser Bewegung von den Frauen kommen, dann deshalb, weil Frauen seit Jahrzehnten Opfer von Säureattentaten, Opfer von Serienmorden, Opfer diskriminierender Gesetzgebung und Opfer weitgehender sozialer Einschränkungen sind. Das Verbot, in Stadien Sportveranstaltungen zu verfolgen, sei hier nur als eines von vielen genannt. Frauen sind doppelt so häufig arbeitslos wie Männer und profitieren nur zu einem Fünftel von wirtschaftlicher Teilhabe. Seit einigen Jahren nehmen zwar viele Frauen ihr Kopftuch im öffentlichen Raum mitunter ab, doch erst in den vergangenen Tagen wurde aus diesen individuellen Entscheidungen eine starke gesamtgesellschaftliche Bewegung. Die Frauen nehmen ihre Kopftücher ab und stellen sich den Aufstandsbekämpfern aufrecht entgegen. Ihr Mut inspiriert Irans Männer. Ihr Ruf, weithin hörbar und mit verblüffender Geschwindigkeit verbreitet, hat den Frauen weltweit Bewunderung eingebracht.
Spielte vor 44 Jahren für den Sturz des Schah-Regimes der Ruf „Allah-u akbar!“ eine wichtige Rolle, so lautet die Schlüsselparole der aktuellen Bewegung: „San, Sendegi, Asadi – Frau, Leben, Freiheit!“ Diese drei verbotenen Elemente bilden einen nicht religiösen, nicht ideologischen und zutiefst lebensbejahenden Leitspruch. Denn das war in Iran Frauen und Männern gleichermaßen jahrzehntelang verwehrt: ein ehrenhaftes, menschenwürdiges Leben. Ein Leben, dessen Quell die Frauen sind.
Wer Frauen ihre gewünschte Lebensweise verwehrt, übt eine Form von Gewalt aus. Der Wahlspruch der aktuellen Bewegung verleiht der Frau symbolisch ein Gesicht und offenbart zugleich ihre Abneigung gegen Gewalt. Zudem symbolisiert die Frau Mitgefühl, und natürlich steht sie für die Geburt. Gewalt, in welcher Form auch immer ausgeübt, macht eine Gesellschaft steril (unfruchtbar), und gegen Gewalt als Urheber von Unfruchtbarkeit wendet die „Frau“ in der Devise der Bewegung sich. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft erschöpft ist vom unerträglichen Leben in der Dauerkrise. Der Begriff Leben spiegelt diese Erschöpfung als Resultat anormaler, außergewöhnlicher Lebensumstände. Im Persischen werden „Frau“ und „Leben“ oft in einem Atemzug genannt. Diese Verknüpfung versinnbildlicht das Leben. Tatsächlich nimmt das Leben ja mit der Frau seinen Anfang.
Keine Zukunftsperspektive in Sicht
Die Frau ist in der iranischen Kultur keineswegs ein schwaches Geschöpf. Ihre Rolle als Mutter macht sie zum stärksten Mitglied ihrer Familie. Und diese Kraft erwächst ihr aus dem Rückhalt ihrer Kinder. Auch die iranische Revolutionsregierung war in ihren Anfängen bei jeder Wahl auf die Stimmen der weiblichen Wählerschaft angewiesen, um sich zu stabilisieren und bald fest Fuß zu fassen. Damals forderte sie die Frauen zu aktivem gesellschaftlichen Engagement auf. Diese Ermunterung zu sozialer Beteiligung hat gewisse Erwartungen geweckt, die das islamischem Recht gehorchende Regime nicht erfüllen kann. Seit Langem schon möchte die Regierung die Frauen von der öffentlichen Bühne nehmen und sie in ihre vier Wände – und dort am liebsten ins Schlafzimmer – verbannen. Man schreibt ihr ihre Hauptrolle, ihre ursprünglichste Aufgabe als Mutter zu, betont seit Jahren die große Bedeutung von Geburtenrate und hohem Bevölkerungswachstum und bietet zu beider Förderung alle Kräfte auf. Die iranische Gesellschaft aber ist reif genug, diesem beharrlichen Werben nicht nachzugeben.
Ein wichtiges Problem im Land blieb bisher ungelöst. Eine optimistische Zukunftsperspektive ist nicht in Sicht. Die Lebensbedingungen der vergangenen vier Jahrzehnte haben ein Gefühl des Stillstands erzeugt, das Hoffnungslosigkeit und Ungewissheit Vorschub geleistet hat. Die vielen Ursachen für die allgemeine Unzufriedenheit haben das Sozialkapital und das Vertrauen der Menschen in ihre Regierung bis zum letzten Rest aufgezehrt.
Wir sind erschöpft. Wir sind es leid, unsere Forderungen seit Jahren unerfüllt zu sehen. Wir sind des Lebens im verstetigten Krisenzustand müde. Die zwei, drei Anfangsjahre nach der Revolution vergingen im Kampf gegen Revolutionsgegner. Dann kam die durch den achtjährigen Krieg gegen den Nachbarn Irak verursachte Krise, an die sich, in steter Folge, weitere Krisen reihten: durch Inflation, Arbeitslosigkeit, Armut, Marginalisierung bedingte soziale Verwerfungen, zusätzlich verschärft durch die weitreichende systematische Korruption unserer Verantwortungsträger.
Die Regierung hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte unseres Schweigens und unserer Gleichmut und Toleranz unwürdig erwiesen. Alle Wege der Hoffnung sind versperrt, und wir sehen die beispiellose Kluft, die zwischen der Gesellschaft und ihrer Regierung klafft. Die aktuelle Bewegung hat die Gesellschaft in ihrer ganzen Breite erfasst. Sie hat keine charismatische Führung, sie ist nicht organisiert und wird von keiner besonderen Gruppe geleitet. Sind das vielleicht ihre Schwachpunkte?
Nach Ansicht mancher Beobachter ist diese breite Protestbewegung ein Zeichen dafür, dass es keinen Weg zurück mehr gibt. Und selbst wenn sich diese Sicht nicht bewahrheitet, lässt sich mit Sicherheit sagen, dass das, was sich derzeit auf den Straßen vieler Städte im Land abspielt, von dauerhafter und so grundlegender Bedeutung sein wird, dass es in der langen Geschichte der iranischen Nation und ihres Volkes auf dem Weg zu Befreiung und Freiheit einen Wendepunkt markiert. Selbst wenn sie niedergeschlagen wird, hat diese Bewegung entscheidende Langzeitwirkung für den Kampf der Zukunft.
Amir Hassan Cheheltan ist Schriftsteller und lebt in Teheran. Sein jüngster Roman, „Eine Liebe in Kairo“, erschien zu Beginn des Jahres in deutscher Übersetzung bei C. H. Beck.
Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.