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Wo verläuft für die Menschen in Iran die Kriegsfront tatsächlich? Im Persischen Golf, in der Strasse von Hormuz oder in den Strassen von Irans Metropolen? Wer ist an den Kriegsschauplätzen jeweils der Gegner? Die USA, Israel und Saudiarabien oder die 15-prozentige Minderheit, die im Namen der Mehrheit alle Macht auf sich vereint? Laut den jüngsten Ergebnissen einer landesweiten, als Sozialerhebung bezeichneten Umfrage denken dreissig Prozent der Bevölkerung über Auswanderung nach. Und das, nachdem bereits acht Millionen Menschen Iran verlassen haben. Meist kehren Fachkräfte dem Land in der Hoffnung auf bessere Verdienstmöglichkeiten und rechtliche Besserstellung im Ausland den Rücken, denn hierzulande kümmert sich niemand um Bürgerrechte oder um das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung. Ein Wirtschaftsexperte nannte die derzeitige Lage im Land eine organische Krise, die abzuwenden oder zumindest abzumildern mittlerweile unmöglich geworden sei.

Niemand in Iran will Krieg, selbst dann nicht, wenn man ihn «Heiligen Widerstand» oder [wie den von 1980 bis 1988 währenden Krieg gegen den Irak, Anm. d. Ü.] «Heilige Verteidigung» nennt. Nach vier Jahrzehnten ununterbrochener Mühsal sind die Menschen psychisch viel zu stark belastet, als dass sie Nacht für Nacht Fliegeralarm erdulden, tagsüber für Versorgungsgüter stundenlang Schlange stehen oder den Anblick endlos langer Konvois mit Särgen unterwegs zu unseren Friedhöfen ein weiteres Mal ertragen könnten. Vermutlich wissen das die Verantwortlichen hierzulande nur allzu gut.

Auch die amerikanische Regierung will wohl keinen Krieg. Immerhin hatte Donald Trump seinen Wahlkampf unter anderem mit dem Credo bestritten, die Amerikaner seien im Irak, in Afghanistan und andernorts in unsinnige Kriege verstrickt.

 

Täglicher Überlebenskampf


Doch diese beiden Wahrheiten zerstreuen unsere Kriegsängste nicht, weil die Lage vor Ort sich anders darstellt. Was bedeutet die Verlagerung amerikanischer Truppen, Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe in den Persischen Golf? Weshalb werden Öltanker beschlagnahmt? Wird der Reigen der Drohungen, Beschlagnahmungen, Sanktionen sich endlos fortsetzen, oder eskaliert die Lage schrittweise, bis ein militärischer Konflikt unausweichlich wird?

Die Bevölkerung ist hinreichend motiviert, politisch auf die Zustände zu reagieren. Noch aber ist es zu früh, uns an einem Wendepunkt zu sehen.

Wenn ein Krieg im Persischen Golf und in der Strasse von Hormuz zwar mit Wenn und Aber verbunden, früher oder später aber vermutlich ausbrechen wird, dann tun die Menschen gut daran, sich nicht darauf zu konzentrieren, sondern ihr Hauptaugenmerk auf den Kampf zu richten, den sie in Irans Metropolen tagtäglich auszufechten gezwungen sind.

Irans Entscheidungsträger sagen der Bevölkerung: «Wir wollen euch das Leben ja leichter machen, aber die Amerikaner hindern uns daran. Ihretwegen ist die Teuerungsrate so hoch, herrscht Inflation, mussten wir unsere Währung abwerten.»

«Das mag wohl sein», entgegnet die Bevölkerung, «aber wie sollen wir das Problem der drastischen Auffassungsunterschiede lösen, die hinsichtlich unserer Lebensstile bestehen?»

Schon ein kurzer Blick auf den Alltag der Menschen hierzulande offenbart die grosse Diskrepanz zwischen der Art, wie die Bevölkerung in den Grossstädten lebt, und der Lebensweise, die der regierende Klerus propagiert. Die Leute fragen: «Wenn neben dem Gebot der Verschleierung auch die Einhaltung weiterer von der Obrigkeit verhängter Gebote zu den religiösen Pflichten zählt, wie verhält es sich dann mit Diebstahl und Korruption? Sind auch deren Verbreitung und Förderung auf höchster Ebene eine religiöse Pflicht?» Kein Tag vergeht, an dem nicht virtuelle und andere Medien über Dinge berichten, die nur aufgrund der besonderen Konstellationen in unserem Land überhaupt Nachrichtenwert haben. Wer näher betrachtet, welche Ereignisse allein in den vergangenen zwei Monaten Schlagzeilen gemacht haben, der bekommt eine genauere Vorstellung von den Konfliktlinien, entlang deren Iranerinnen und Iraner ihren Alltag meistern müssen.

 

 

Normverstösse noch und noch


Zu Sommerbeginn berichteten einige Zeitungen über einen Vorfall an einem See im Norden des Landes. Was fundamentalistische Medien als Normverstoss einstuften, bestand darin, dass einige junge Damen und Herren in Badebekleidung in dem See gebadet hatten. Weiter hiess es, die Betreffenden hätten diesen Teil des islamisch geprägten Landes wohl mit den Stränden im türkischen Antalya verwechselt, und man forderte die Verantwortungsträger auf, angemessen zu reagieren. Tage später meldeten Zeitungen ein zweites Vorkommnis dieser Art an einem anderen See, ebenfalls in Irans Norden. Der stellvertretende Provinzgouverneur stellte für solch ungebührliches Verhalten im Wiederholungsfall strafrechtliche Konsequenzen in Aussicht.

Während das Ereignis in den sozialen Netzwerken weiterhin hohe Wellen schlug, sorgte eine andere Meldung für Aufsehen, laut der ein Fahrer des Fahrdienstes Snapp unterwegs auf der Autobahn einen weiblichen Fahrgast aufgefordert hatte, aus seinem Wagen auszusteigen. Angeblich hatte die junge Frau ihr Kopftuch nicht regelkonform getragen. Sie verbreitete die Nachricht via Twitter und verlangte von Snapp die Entlassung des Fahrers. Der wurde Tage später für sein im islamischen Sinne vorbildliches Verhalten offiziell belobigt. Zeitungen berichteten zur Erläuterung seiner drastischen Massnahme, er habe die Frau gebeten, ihr Kopftuch zurechtzurücken, und da sie sich geweigert habe, seiner Aufforderung nachzukommen, habe er sie angewiesen, sein Fahrzeug zu verlassen.

In den sozialen Netzwerken steigerte sich die Entrüstung so weit, dass einige Nutzer sogar zum Boykott von Snapp aufriefen. Die junge Frau twitterte am nächsten Tag, dessen Betreiber hätten sich zwar telefonisch bei ihr entschuldigt, die Entschuldigung aber wenig später zurückgenommen. Als Gast einer Sendung des staatlichen Fernsehens war der Fahrer unterdessen gelobt worden, während ein ebenfalls in der Sendung anwesender Rechtsgelehrter erklärte, mit ihrer nachlässigen Verschleierung riskiere die junge Frau eine Gefängnisstrafe. Kurz darauf hiess es, der Fahrer habe die Familie der jungen Frau besucht, habe sich entschuldigt und ihr einen Koran sowie weitere islamische Schriften zum Geschenk gemacht. Das im Internet dazu veröffentlichte Foto zeigte neben zwei weiteren Personen die junge Frau und ihre Mutter, beide ganz offenbar verärgert.

Die Meldungen über den aufsässigen Fahrgast und den pflichtbewussten Taxifahrer waren kaum verklungen, da sorgte ein Parlamentarier für Schlagzeilen mit seiner Kritik an den zahlreichen Abendveranstaltungen der in Teheran ansässigen diplomatischen Vertretungen. Er fand es zudem empörend, dass man in deren Räumlichkeiten unter Missachtung islamischer Sitten und Bräuche auch während des Ramadan Alkohol reiche. Der Parlamentspräsident beauftragte den Ausschuss für Staatssicherheit und auswärtige Angelegenheiten, sich der Sache anzunehmen. Fast zeitgleich gab der Chef der Teheraner Polizei die Schliessung von 567 Luxusrestaurants in der Hauptstadt bekannt und begründete sie mit Verstössen gegen islamische Sitten und Gebote und mit dem unerlaubten Abspielen von Musik.

 

 

Ohne Illusionen


Weit heftigere Empörung aber löste das für Frauen geltende Verbot aus, in der Öffentlichkeit Eis zu schlecken. Schon kurz nach dessen Verhängung fanden sich, erstaunlicherweise, in den sozialen Netzwerken Bilder von Frauen, die dem Vergnügen des Eisschleckens hingebungsvoll und betont erotisch frönten. Der losbrechende Sturm der Entrüstung zwang die Leiterin der Frauenbrigade der regimetreuen Basidsch-Milizen, auf deren Initiative die Vorschrift zurückging, sie umgehend aufzuheben.

Solche Meldungen halten die Bevölkerung nicht lange in Atem. Jede einzelne wird rasch von neuen Schlagzeilen verdrängt. Siebzig Frauen festgenommen, weil sie an einem zentral gelegenen Platz in der Hauptstadt Fahrrad gefahren waren, zwanzig andere Frauen verhaftet, weil sie auf ihren Festen, westlichen Lebensgewohnheiten gemäss, ausgelassen gefeiert und getanzt hatten.

Die Revolutionsregierung hält sich nun seit vier Jahrzehnten im Amt. Auch dem letzten Mitbürger, der letzten Mitbürgerin ist mittlerweile unmissverständlich klargeworden, dass diese Regierung es, dank ihren unablässig sprudelnden Einkünften aus Erdölverkäufen, verstanden hat, die Macht in ihren Händen zu konzentrieren, sie zu konsolidieren, über Jahrzehnte hinweg die Korruption in allen Bereichen von Politik und Wirtschaft zu etablieren, sämtliche Medien zu kontrollieren und von freien Wahlen allein die Worthülse übrig zu lassen. Überschattet von einem drohenden Krieg und unter der Last der angesichts von Arbeitslosigkeit, hoher Teuerungsraten und vierzig Prozent Inflation verheerenden Wirtschaftslage, in der die Medien zudem täglich neue Hiobsbotschaften über Korruption auf höchster Ebene ans Licht bringen, ist die Bevölkerung hinreichend motiviert, politisch auf diese Zustände zu reagieren. Noch aber ist es zu früh, uns an einem Wendepunkt zu sehen.

 

 By: Neue Zürcher Zeitung