in der zweiten runde der iranischen Präsidentschaftswahlen hat sich massud Peseschkian gegen seinen Kontrahenten said Dschalili durchgesetzt und ist im Parlament und vor der nation umgehend als irans neunter Präsident vereidigt worden: auf den Koran beschwor er, dass er der Verfassung des landes treu sein und die Ordnung der islamischen republik wahren werde. Peseschkian ist Herzchirurg und hat bei den menschen, die für ihn gestimmt haben, mit seinen Wahlversprechen die erwartung geweckt, dass er einen eingriff an der hiesigen regierungsführung vornehmen wird: eine Operation, die mit minimalem Blutverlust einhergehen und das land zu neuem leben erwecken soll, damit es zur normalität zurückfindet und die menschen mit einem Hauch Vertrauen in die Zukunft auf ein mindestmaß an Wohlstand und glück hoffen können.
im gegensatz zu früheren Präsidentschaftswahlen wurden wir diesmal Zeuge zweier wichtiger ereignisse, denen auf irans beschwerlichem Weg zu Freiheit und Demokratie besondere Bedeutung zukommt. Zum einen war die regierung gezwungen, einen Kandidaten aus dem lager der reformer zum Wahlkampf zuzulassen. Zum anderen musste Dschalili als Kandidat der Fundamentalisten, der die bestehenden Zustände im land gutheißt, geringere Wählerzustimmung hinnehmen. er hat an sympathie eingebüßt; bei den letzten Präsidentschaftswahlen gelangte der damalige Kandidat der Hardliner, ibrahim raisi, mit achtzehn millionen stimmen in sein amt, während der jetzige regimekonforme Kandidat nur noch 13,5 millionen stimmen erhielt. Vor der aktuellen abstimmung hatten in den vergangenen fünf Jahren drei wichtige Wahlen im land stattgefunden: die Parlamentswahlen von 2019 und 2020 sowie die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2021, die raisi für sich entschieden hatte. Jedes mal sank die Wahlbeteiligung weiter.

Wer Wahlmanipulationen nicht ausschließt, hält das Phänomen, dass man einem regimekritischen Politiker Zutritt zur politischen arena gestattet hat, für eine Finte des harten Kerns der macht, um einen weiteren rückgang der Wahlbeteiligung aufzuhalten und, wichtiger noch, die gefahr zu bannen, dass das gesamte system abstürzen und sich endgültig zerstören könnte. sollte das zutreffen, würden wir trotzdem Zeugen einer Wende im sinne der menschen im land.

Die regierung gibt seit mehr als vier Dekaden unablässig Befehle, fordert unentwegt gehorsam, wobei sie sich selbst als unantastbar erachtet und sich im Bunde mit höheren mächten sieht. Diese sicht der Dinge hat ein reiches land mit uralter tradition in eine miserable lage manövriert. Weitreichende armut, immens hohe inflation, arbeitslosigkeit, Korruption und internationale isolation sind die Folge.

Wird Peseschkian, der Wahlsieger vom 5. Juli, diese art der regierungsführung nun auf den Kopf stellen und dafür sorgen können, dass die regierung sich künftig als makler der menschen und nicht mehr als deren meister versteht? Wird er verstehen, dass Protest ein kultureller akt ist, dass man menschen die möglichkeit einräumen muss, Protest zu äußern, statt ihnen mit gewehrkugeln zu begegnen?

 

 

szenen aus dem maschinenraum

 

 

Beim zweiten Wahlgang, der Peseschkian zum sieg verhalf, sind immer noch mehr als fünfzig Prozent der Wahlberechtigten den urnen ferngeblieben. Diese menschen fordern radikale Veränderungen, die sie im rahmen der bestehenden strukturen für nicht umsetzbar halten. auf der anderen seite haben dreißig Prozent der Wahlberechtigten Peseschkians Wahlversprechen für glaubwürdig gehalten und deshalb für ihn gestimmt. Dieses Verhalten von menschen, die spüren, dass jede sekunde ihres lebens immer und überall – auf den straßen und bei der arbeit, in der schule und an der universität, in der metro und in Freizeitparks – von Politik geprägt ist, sendet ein deutliches signal. Diesen menschen steht eine minderheit von zwanzig Prozent gegenüber, die möchte, dass alles so weitergeht wie bisher, und deshalb die Fortsetzung der Politik des tödlich verunglückten ibrahim raisi fordert. einer Politik, die iran in dessen amtszeit eine höhere inflationsrate und einen ungünstigeren armutsindikator beschert hat als bei seinem amtsantritt. Wird sich die mehrheit der achtzig unzufriedenen Prozent gegen die zwanzigprozentige minderheit durchsetzen? Das ist höchst unwahrscheinlich. Diese zwanzig Prozent besitzen alle geldquellen, verfügen über die machthebel und wollen der mehrheit weder geld noch macht überlassen.

achtzig Prozent der Bevölkerung irans wünschen sich Veränderungen, und genau diese menschen werden verleugnet, aus der gesellschaft ausgeblendet, ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben. sie sehen sich in der iranischen gesellschaft nicht, nicht im radio, nicht im Fernsehenauf beides hat der harte Kern der macht das monopol. auch in den angeblich freien medien sehen sie sich nicht, nicht in den stark zensierten Büchern, Drehbüchern, theaterstücken oder ausstellungen, nicht in Parteien, nicht in gewerkschaften. sie möchten sich aber wiedererkennen in der gesellschaft, in der sie leben, möchten sich aktiv und lebendig fühlen. Kürzlich bezeichnete ein soziologe den größten teil der Bevölkerung irans als untote, menschen, die nicht lebendig genug sind, um bemerkbar zu sein, doch auch noch nicht so tot, dass man sie zu grabe tragen müsste.
Die reformer und unterstützer von massud Peseschkian sehen seinen Wahlsieg übertrieben optimistisch als ergebnis einer repräsentativen umfrage, in der die Befragten sich im Protest gegen bestehende Zustände unter anderem zu folgenden themen positiv geäußert haben: Wiederbelebung der Demokratie, konstruktive auslandsbeziehungen, Wiederaufnahme der nuklearverhandlungen, Beitritt zur internationalen Kontrollinstitution FatF (einer sondereinheit zur Bekämpfung von geldwäsche), einer absage an respektlosigkeiten gegenüber Frauen und die Blockade von internetzugängen.
auch Peseschkian hat sich während seines Wahlkampfs mehr oder minder dahingehend geäußert, doch es ist so gut wie ausgeschlossen, dass es ihm gelingen wird, die Hindernisse, auf die er treffen muss, aus dem Weg zu räumen. Wird er irans stellvertreterkräfte in der region in ihre schranken weisen können? Wird er eine ideologische außenpolitik, die für irans gespannte Beziehungen zu ausgerechnet jenem teil der Welt gesorgt hat, der über mehr als die Hälfte der globalen Produktivkraft verfügt, wieder gen ausgleich und
Vernunft lenken können, irans Verhältnis zum Westen neue impulse geben und den bisher antiwestlich geprägten Kurs ändern? und wird er, zu guter letzt, die einmischung der regierung in unseren alltag, unsere art zu leben, in Kultur, Kunst, in unser Denken und in Bildung und Wissenschaft zu unterbinden wissen?
massud Peseschkian hat in seinem Wahlkampf kein Programm zur Diskussion gestellt, er hat keine Vorschläge für objektive greifbare lösungsmöglichkeiten unterbreitet. Doch er muss wissen, dass schnell eine Zeit kommen wird, in der er antworten auf das geben muss, was die menschen fordern. er hat versprochen, die Klassenunterschiede im land zu verringern, aber kein Wort dazu verloren, wie er das bewerkstelligen will. seine Wahlkampfparolen, etwa „Die schmerzen der leidenden lindern!“, gingen über populistische allgemeinplätze nicht hinaus, und auch sätze wie „ich bin die erde unter den Füßen des Volkes“ klangen anbiedernd und entbehrten jeder politischen Wirkung.
Peseschkian hat gleich nach seinem Wahlsieg und in seiner ersten rede als Präsident der republik verkündet, nun sei die Zeit gekommen, die stimmen derer zu hören, die den Wahlen ferngeblieben sind. Wie aber soll diese große gruppe der Bevölkerung ihre Forderungen vorbringen? Über die freien medien? Durch unabhängige politische Parteien im rahmen der bestehenden politischen strukturen? Zurzeit gibt es weder die einen noch die anderen. Peseschkian hat auch gesagt: „Wir erheben uns wieder und wollen das land vor armut, lüge, Diskriminierung und ungerechtigkeit retten.“ Das sind Ziele, zu deren umsetzung in iran vor fünfundvierzig Jahren eine revolution stattgefunden hat. Was hat massud Peseschkian in diesen fünfundvierzig Jahren eigentlich gemacht?
in iran hat die Politik über Wissen und erkenntnis triumphiert. ethik, religion, Kultur und Kunst wurden durch die politischen machthaber von der Bühne verdrängt. Diese situation hat auch eine chaotische politische sprache hervorgebracht, in der man leicht lügen, mühelos verleumden und noch einfacher gesetze brechen kann. so werden genetische ressourcen und menschliche Fähigkeiten vergeudet und verschwinden mit der Zeit. angaben zur wirtschaftlichen Produktivität, von internationalen Organisationen für die letzten fünfzig Jahre zusammengetragen, weisen für iran einen arbeitsproduktivitätsindex von minus 0,1 aus, während der für indien 1,9 beträgt. experten sehen einen der gründe dafür in der tatsache, dass menschen abwandern. Durch die abwanderung von arbeitskräften sinkt das genetische Potential eines landes, arbeitsqualität und kreativität werden geringer, und in der Folge wird arbeit unproduktiv. mit welchen mitteln und mit welcher Politik will Peseschkian diesen Braindrain aufhalten? Was will er unternehmen, damit iranerinnen und iraner nicht länger den intensiven Wunsch hegen, ihrem land den rücken zu kehren? Wo will er überhaupt ansetzen, und was will er ausrichten?
Wenn das soziologische Postulat stimmt, demzufolge politische Weisheit und erfahrung aus lebensweisheit und erfahrung erwachsen, dann besteht in iran keine Beziehung zwischen beiden. in unserer gesellschaft ist die Verbindung zwischen leben und Politik abgerissen. ein deutliches indiz für diese unterbrechung, für diesen Bruch ist der tatbestand, dass regierung und Volk danach trachten, sich gegenseitig auszulöschen. Das wiederum zeigt, wie schlimm es um unsere gesellschaft bestellt ist. Kann Peseschkian diese Feindseligkeit ausräumen oder ihr zumindest die spitze nehmen? Wird er in dieser erschöpften, deprimierten gesellschaft Politik wieder mit dem leben verbinden können?
Vorhersagen über die Zukunft sind schwer zu treffen, aber die erfahrungen aus der Vergangenheit und die gegenwärtige realität haben die menschen immer weiter von Optimismus und Zuversicht entfernt.

Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.

Amir Hassan Cheheltan lebt als Autor in Iran.

Im Oktober dieses Jahres wird er anlässlich seiner beiden jüngsten auf Französisch und Deutsch erschienen Romane in Frankreich, Deutschland und der Schweiz auf Lesereise sein.

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