Alle Welt blickt nach Afghanistan, aber im Nachbarstaat Iran ist mit der Wahl des neuen Präsidenten Raisi eine ebenso brisante Lage eingetreten: für die hungernde Bevölkerung und auch für das Regime selbst.

 

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Wie viel Begeisterung wird bleiben? Irans Staatspräsident Ebrahim Raisi will als Mann des Volkes agieren, aber nicht einmal ein Drittel hat ihn gewählt. AP

 

 

Nachdem ein Kollege an Corona verstorben und dessen Tod auf großes Echo in den sozialen Medien gestoßen war, wandte ein iranischer Filmschauspieler sich via Twitter kürzlich an die Verantwortlichen: „Sie entscheiden zwar für uns, das Sterben aber übernehmen Sie für uns nicht.“

Erhebungen zufolge hat das Coronavirus in Iran bisher mehr als zweihunderttausend Tote gefordert. Bedingt durch Impfstoff- und Medikamentenmangel, steigt diese Zahl jetzt so rasant wie nie. In dieser Situation hat der neue Staatspräsident Ebrahim Raisi das Parlament dazu auf­gefordert, seinem Kabinett das Vertrauen auszusprechen. Raisi ist von einer Wahl ins Amt gebracht worden, die die geringste Beteiligung seit Bestehen der Islamischen Republik verzeichnete.

 

Täglich Hunderte Corona-Tote

In Iran sterben täglich mehr als sechshundert Menschen an Corona. Und obwohl das Land nicht in einen mörderischen Krieg verwickelt ist, steht zu vermuten, dass diese Opferzahl weit über der liegt, die der unerbittliche Siegeszug der Taliban im benachbarten Afghanistan fordert. Ein Verantwortungsträger mutmaßt, dass man sich bald auf eine Zahl von durchschnittlich achthundert Opfern pro Tag wird einstellen müssen.

 

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Verheerende Lage: Irans Gesundheitssystem ist der Pandemie nicht gewachsen.

 

Dieser Todes-Tsunami – wie ein Journalist die Coronalage in Iran bezeichnet hat – veranlasst die zuständigen Verantwort­lichen zu nichts, außer zu gegenseitigen Schuldzuweisungen. Kürzlich erklärte der Leiter des Corona-Bekämpfungsstabs in beispielloser Offenheit: „Als die Experten der Weltgesundheitsorganisa­tion im Zu­sammenhang mit der Corona-Pandemie nach Iran kamen, hat man ihnen genaue Opferzahlen vorenthalten, und statt gemeinsam mit der WHO über Lösungswege nachzudenken, baten wir sie lediglich darum, Irans Gesundheitssystem öffentlich zu loben.“ Er offenbarte auch: „Ausländische Hilfe und Vertreter von Ärzte ohne Grenzen haben wir bereits am Flughafen abgewiesen und die Einbindung inter­nationaler Berater abgelehnt. Wegen angeblich zu hoher Kosten haben die Verantwortungsträger ihre Erlaubnis zum Kauf ausreichender Mengen Impfstoffs verweigert.“ Landesweit verfügt kaum eine Intensivstation über genügend Betten, und Angehörige von an Covid-19 Erkrankten müssen sich erforderliche Medikamente mitunter auf dem Schwarzmarkt beschaffen. Auch ein zuständiger Pharmakologe nannte Deviseneinsparungen als Grund für diesen Engpass.

Regierende haben keine Lösung

Auf einen großen Mangel an Impfstoffen deuten die Anstürme auf Impfzentren hin. Zur Eindämmung der Krise hatte der Gesundheitsminister ausdrücklich um einen zweiwöchigen Lockdown gebeten. Seine Bitte ging ins Leere. Eine erzwungene Einschränkung des öffentlichen Lebens würde auch bedeuten, dass die vielen Menschen, die darauf angewiesen sind, täglich zur Arbeit zu gehen, um ihr Brot zu ver­dienen, hungern müssten.

 

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Vertraut auf Gott: Präsident Ebrahim Raisi

 

Khusestan, die über einem Ozean aus Öl liegende Provinz im Süden Irans, war in jüngster Zeit Schauplatz von Spannungen und Unruhen. In mehreren dortigen Städten trieben Durst und Ärger über die Ineffizienz des politischen Systems viele junge Menschen auf die Straße. Unsachgemäß umgesetzte Wasserbauprojekte und ohne jeglichen Expertenrat errichtete Stau­dämme haben in Khusestan eine Umwelt­katastrophe bewirkt, für die Regierungsbeamte nicht etwa selbst die Verantwortung übernehmen, sondern sie auf die Dürre in der Provinz, den allgemeinen Klimawandel und die internationalen Sanktionen schieben. Stromausfälle in Teheran und vielen anderen Städten zwingen Menschen dazu, den sehr heißen Sommer ohne Klimaanlagen zu bewältigen. Da die Regierenden für keine der sich landesweit manifestierenden Krisen eine Lösung parat haben, bleibt ihnen allein die Gründung von Sonderkommissionen zur Untersuchung.

Phänomene wie Weitsicht, Vorausschau, Zukunftsvorsorge gibt es in Iran nicht. Das iranische Managementmodell sieht so aus: Kein Direktor im Land ist in der Lage, so klug zu planen, dass Betriebsschwierigkeiten sich gar nicht erst einstellen, und auch die Regierung sucht Probleme erst dann zu lösen, wenn sie bereits bestehen. Entsprechend ist Iran auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen.

Der Hunger nimmt zu, die Not wächst

Mit der Wahl Raisis zum Präsidenten und der damit einhergehenden Vereinheitlichung der Regierung stehen die religiösen Hardliner erstmals gemeinsam vor einem Berg von Problemen und krisenbedingten Herausforderungen. Jetzt zeitigen vier Jahrzehnte permanenter Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Reichtum und Macht ihre unheilvollen Folgen: wachsende Armut in den Städten und trotzdem Landflucht. Die neu zugezogenen Armen, millionenfach in urbane Randbezirke gedrängt, sehen sich mit Ausgrenzung und Entfremdung konfrontiert. Arbeitslosigkeit, Armut, Inflationsraten in zwei-, gar dreistelliger Höhe, Diskriminierung und daraus zwangsläufig resultierende spontane Massenbewegungen sind sämtlich Tatbestände, deren Ursachen in Rezession, grassierender Korruption und Managementversagen, sprich schlechter Regierungsführung, liegen.

Jene Leute, denen vor vier Jahrzehnten ihr Versprechen, die Armut auszurotten, an die Schalthebel der Macht verholfen hat, tragen seitdem täglich zur wachsenden Zahl der Armen im Land bei, sie haben Iran ins wirtschaftliche Elend manövriert. Von der Mittelklasse einst vorgebrachte Forderungen nach Freiheit und Menschenrechten werden von zunehmendem Hunger und wachsender Not verdrängt. Fast alle Experten sind sich einig: Die Re­zession drückt immer weitere Teile der Gesellschaft unter die Armutsgrenze, und sie ließe sich nur durch aktiven, konstruk­tiven internationalen Wirtschaftsaustausch eindämmen. Dies anzuerkennen, weigert sich das in seiner Ideologie verhaftete Regime aber hartnäckig.

 

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Wirtschaftliches Elend: Die Zahl der Armen im Land nimmt zu.

 

Es sieht ganz danach aus, als habe die Regierung nicht nur nichts mehr zu bieten, um sich Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern, sondern auch keine Antworten auf die insbesondere durch öffent­lichen Druck ins Blickfeld gerückten Forderungen und Fragen. Vor Jahrzehnten, an der Schwelle zur Revolution von 1979, hatte der ideo­logische Islam die Rolle der militanten Religion gestärkt und revolutionären Zielen zum Durchbruch verholfen. Heute ist offenkundig: Diese Ideo­logie dient der Unterdrückung von Kritikern, der Festigung politischer und wirtschaftlicher Inter­essen einer verschwindend geringen Minderheit und der Zementierung des Status quo. Die sich an ihre Macht klammernde Minderheit hält sich für allwissend und bestimmt alles. Ihrer Definition nationaler Interessen nach ist nicht nur Amerika, sondern der Westen insgesamt eine Inkar­nation des Teufels, dem zu nähern man sich hüten muss. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass der Hass der Regierenden auf den Westen aus ihrer Abneigung gegen mit diesem verbundene Konzepte und Ideen wie Freiheit und Menschenrechte erwächst.

Die Jugend sehnt sich nach Einigung

Iran zählt zu den wenigen Ländern des Mittleren Ostens, in denen beachtliche Teile der Bevölkerung, anders als von den Oberen an­genommen, Kontakt und Austausch mit dem Westen herbeisehnen, während ihnen die politische Hinwendung gen China ganz und gar nicht behagt. Deshalb ist es höchst unwahrscheinlich, dass es den Entscheidungsträgern gelingen wird, Iran in ein zweites Nordkorea zu verwandeln. Vor Jahrzehnten befürchteten iranische Intellektuelle, vom linken bis zum rechten Spektrum, dass eine Hinwendung zur westlichen Kultur die Iraner zu sich selbst entfremdeten, verwirrten und orientierungslosen Geschöpfen machte. Nach Dekaden der Feindseligkeit gegenüber dem Westen bietet vor allem die junge iranische Gesellschaft heute ein anderes Bild.

 

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Die Gesellschaft hat sich verändert: Die Regierung wirkt hilflos.

 

Sie wünscht sich nichts mehr als nationale Einigung und den Aufbau internationaler Beziehungen. Die Gesellschaft hat sich weitreichend und tiefgreifend ver­ändert. Mit dem Ausbau der Kommunikationssysteme, insbesondere durch das allgegenwärtige Internet und die den Fundamentalisten schlaflose Nächte bereitenden sozialen Medien, wurde den traditionellen Konservativen der kulturelle Boden entzogen. Sie weichen Antworten auf die neuen Forderungen der Gesellschaft aus, schlagen weiterhin die Trommel gegen den feindlichen Westen und setzen unbeirrt alles daran, ihn und dabei besonders die USA zu dämonisieren. Desgleichen schränken sie seit Jahren den allgemeinen Zugriff aufs Internet ein und geben vor, dessen Nutzer gegen den Ansturm der missliebigen westlichen Kultur schützen und die sozialen Netzwerke entsprechend absichern zu wollen. Dass Menschen unvermittelt und direkt miteinander kommunizieren, macht den Regierenden Angst.

Reformer in der Zwickmühle

Irans Reformer indes stecken in einer tragischen, wenn nicht gar tragikomischen Zwickmühle. Diejenigen unter ihnen, die sich ihren Anteil an der Macht sichern wollten, wurden jetzt sämtlich beiseite gedrängt. Aus Eigennutz hatten sie die Bürger über Jahre hin mit der Behauptung an die Wahlurnen gelockt, man müsste für sie stimmen, um zu verhindern, dass die Fundamentalisten siegten und sich die Lage im Land weiter verschlimmere. Im Rahmen der jüngsten Wahl aber sind das öffentliche Gewissen und das kollektive Unbewusste zu der Einsicht gelangt, dass die Entscheidung zwischen einem größeren und einem kleineren Übel nur weitere Ungerechtigkeit herbeiführt. In der Fünfzehn-Millionen-Metropole Teheran haben diesmal nur 22 Prozent der Wahlberechtigten für den neuen Präsidenten gestimmt. Im gesamten Land waren es gerade einmal dreißig. Als „Volkskandidat“ wird Raisi damit gegenüber den eigentlichen Machthabern nicht auftreten können. Und deshalb auch keine neue Politik durchsetzen.

Das ist aber bei weitem nicht die einzige Schwierigkeit, der Präsident Raisi sich gegenübersieht. Dieser Tage steht in Stockholm einer jener Männer vor Gericht, denen die Ermordung politischer Gefangener 1988 in Teheran zur Last gelegt wird. Ebrahim Raisi war damals stellvertretender Generalstaatsanwalt, und in den Akten taucht sein Name als eines der vier Mitglieder des „Todeskomitees“ auf. Im hiesigen politischen Sprachgebrauch bezeichnet dieser Begriff jenes Gremium, dessen Mitglieder damals vom Führer der Islamischen Republik den Auftrag erhielten, die Akten politischer Gefangener noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Die Ergebnisse dieser Überprüfungen gipfelten in der Hinrichtung von mehr als viertausend Menschen. Die USA und die EU sanktionierten Raisi wegen Verletzung der Menschenrechte, und einige internationale Organisationen bezeichnen ihn als „Verbrecher an der Menschheit“. Amnesty International fordert, Präsident Raisi strafrechtlich zu verfolgen.

Bedeutungslos gewordene gewählte Organe oder Foren wie das Präsidialamt oder das Parlament und die fortdauernde Atmosphäre der Unterdrückung und Zensur in Iran sowie das Fehlen zivil­gesellschaftlicher Einrichtungen, politischer Parteien und anderer organisierter Gruppen, die an der Formulierung nationaler Interessen beteiligt wären, haben für derart dunkle Zukunftsaussichten gesorgt, dass allein das Echo der Stimme eines weiteren Mitbürgers in ihnen Widerhall findet, der auf Twitter den Tod eines an Corona verstorbenen Freundes beklagt: „Wenn ihr schon keinen Impfstoff habt, macht unserem Leben doch einfach ein Ende, indem ihr uns abknallt. Genügend Waffen habt ihr ja.“

Amir Hassan Cheheltan, geboren 1956, lebt als Schriftsteller in Teheran. Zuletzt erschien auf Deutsch sein Roman „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ (C. H. Beck). Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.

 

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