die iranische gesellschaft hat im lauf ihrer geschichte weit mehr als genug durchgemacht. Zieht die regierung aus diesen erfahrungen, aus der geschichte des landes insgesamt, irgendwelche lehren? nach fünfundvierzig Jahren am ruder lautet das Fazit: nein. diese regierung ist absolut lernunfähig. ihre art der machtausübung hat uns eine Folge auswegloser krisen beschert. Wusste teherans Bürgermeister, dass mit seinem vor sechs monaten angekündigten einsatz von Spezialkräften zur kontrolle von Verstößen gegen das kopftuchgebot in der teheraner metro unheil programmiert war?
eine Woche nach Schuljahresbeginn stieg armita, sechzehn Jahre jung, Schülerin, in teheran am ersten Oktober um sieben uhr acht mit zwei Freundinnen in eine u-Bahn. Veröffentlichte Videos zeigen, dass die Freundinnen armitas leblosen körper minuten später aus dem Waggon tragen. Sie wird ins krankenhaus gebracht. Was ihr während ihrer kurzen Zugfahrt widerfuhr, ist auch nach tagen noch völlig ungewiss.
der Vorfall ähnelt auf verblüffende Weise dem, was mahsa amini im vergangenen Jahr passiert ist, und stürzt teheran in einen Wirbelsturm von gerüchten. Offizielle medien dementieren, dass armita geschlagen wurde, und bezeichnen das starke öffentliche interesse an dem Vorfall einhellig und mit immer gleichem Wortlaut als resultat eines ausländischen komplotts. Sind die offiziellen Verlautbarungen etwa nicht glaubwürdig? Weshalb akzeptiert die öffentliche meinung die darstellung der machthabenden nicht? die antwort liegt auf der hand. denn die öffentliche meinung hat jede menge Fragen, die die offizielle darstellung widerlegen könnten: Weshalb wurde armita sofort in ein militärkrankenhaus gebracht? Weshalb wurde die umgebung des krankenhauses abgeriegelt? Weshalb verweigert man unabhängigen Journalistinnen und Journalisten den Zutritt zum krankenhaus? Weshalb sitzen armitas angehörige nicht bei ihr am krankenbett? Weshalb wurde mariam lotfi, korrespondentin der tageszeitung „Schargh“, festgenommen, während sie mit armitas mutter im gespräch war? Weshalb berichten nur offizielle medien über den Vorfall? Weshalb wurde, laut angaben der iranischen lehrergewerkschaft, armitas lehrern nahegelegt, keine Fotos von ihr, keine Berichte über sie zu veröffentlichen?
natürlich kann die Sache sich ganz einfach zugetragen haben. der jungen Frau wurde nach einem kreislaufversagen schwindelig, sie verlor das Bewusstsein, brach zusammen, schlug hart mit dem kopf auf und fiel verletzungsbedingt ins koma. Weil aber in der teheraner uBahn seit monaten die kopftuch-Patrouille unterwegs ist, könnte der tathergang sich auch wesentlich komplizierter gestaltet haben.
Hüter von Moral und Wahrheit
Wenn dinge derart undurchsichtig sind, werden inoffizielle meldungen besonders interessant. einigen solcher Berichte zufolge hat ein hijab-kontrolleur armita, die kein kopftuch trug, einen Stoß versetzt, woraufhin sie mit dem kopf gegen einen metallpfosten gestoßen und in Ohnmacht gefallen war. nun liegt sie mit einer hirnblutung im koma. diese darstellung des tathergangs verbreiten nicht nur einige persischsprachige medien im ausland, sondern auch der britische guardian. der hatte zwei augenzeugen interviewt, die bestätigten, dass Sittenpolizisten armita geschlagen hatten und dass der handgreiflichkeit ein Wortgefecht vorausgegangen war.
neben solchen aussagen wirken die darstellungen in den offiziellen medien und die der zuständigen regierungsvertreter hastig zusammengeschustert, entsprechend oberflächlich, nicht stichhaltig. und sie werfen Fragen auf. Von offizieller Seite wurden kurze Videos vom tag des geschehens veröffentlicht, die lediglich zeigen, dass armita die metrostation betritt, in eine Bahn steigt und wenig später leblos aus einem Waggon getragen wird. Was in den schrecklichen minuten dazwischen in dem uBahn-Wagen geschah, wurde nirgends festgehalten. Bemerkenswert ist, dass armita in keiner der kurzen Filmsequenzen ein kopftuch trägt, ihr haar ist sichtbar.
ein direktor der teheraner metro ließ verlauten: „Sämtliche überwachungskameras wurden überprüft. die aufzeichnungen zeigen keinerlei auseinandersetzungen oder Zusammenstöße.“ Offiziellen angaben zufolge zählt der in rede stehende Wagen zu denen, die nicht mit überwachungskameras ausgestattet sind, weshalb die darstellung des direktors weder bestätigt noch widerlegt werden kann. indes finden sich in den sozialen medien Bilder, die klar erkennen lassen: auch in dem Waggon, in dem das vermutete unheil seinen lauf genommen hat, gab es überwachungskameras.
noch drei tage nach dem Vorfall tauchte armitas name in keiner offiziellen meldung auf. Vielmehr bezeichnete man sie als „die Schülerin im krankenhaus“, musste ihre identität schließlich aber doch preisgeben, weil ihr name – dem einer nationalheldin gleich – bald in aller munde war. armitas eltern wurden vor die kameras des offiziellen Fernsehens gesetzt. abgehackt und nur sehr zögernd sprachen sie vom kreislaufversagen ihrer tochter, die daraufhin gestürzt und mit dem kopf gegen die Wand des u-Bahnwagens geschlagen sei, doch man sah den beiden an, wie unwohl sie sich fühlten und wie besorgt und zugleich verärgert sie waren. iranische menschenrechtsgruppen bezeichneten das interview als ein Beispiel für erzwungene geständnisse. das staatliche Fernsehen veröffentlichte überdies die aussagen zweier junger Frauen, die die offizielle Version der geschehnisse bestätigten und zugleich erklärten, sie seien gemeinsam mit armita in dem u-Bahn-Wagen unterwegs gewesen. in der Filmaufnahme sind die beiden namenlosen mädchen nur unscharf zu sehen, ihre gesichter erkennt man nicht.
in Franz kafkas „kleiner Fabel“ lesen wir von einer maus: „die Welt wird immer enger mit jedem tag. Zuerst war sie so breit, dass ich angst hatte. ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne mauern sah, aber diese mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „du musst nur
die laufrichtung ändern“, sagte die katze und fraß die maus.“
manchmal wird es sehr rasch zu spät. irans regierung aber hatte mehr als vier Jahrzehnte Zeit, die laufrichtung zu ändern, die Stimmen des Volkes wahrzunehmen und auf die Wünsche und Bedürfnisse dieses Volks einzugehen. der raum, der Verhandlungsspielraum, in dem die Bevölkerung sich mit ihrer regierung hätte auseinandersetzen und einigen können, existiert nicht mehr. irans machthaber verschließen die augen vor bestehenden gesellschaftlichen Wahrheiten. genauer gesagt: Sie erkennen die iranische gesellschaft nicht an. da die regierenden sich selbst als hort und hüter von moral und Wahrheit betrachten, können sie „andere“ weder sehen, noch können sie hören, was „andere“ ihnen mitteilen möchten. um es mit martin Buber zu sagen: „die Beziehung zwischen regierung und Volk ist wie die Beziehung des ich zu einem es und bildet sich in abgrenzung voneinander.“ machthaber empfinden vom offiziellen kurs abweichende politische reaktionen als unerträglich, wobei es völlig unerheblich ist, worin die abweichungen bestehen oder welche ursachen sie haben.
Keimzelle des Widerstands
der ausgrenzung, Vertreibung und Zensur an die macht gelangte, wurde die iranische gesellschaft unsichtbar. immer seltener durfte sie in romanen oder gedichten vorkommen, und verschwand auch bald aus der malerei, von theaterbühnen und aus kinofilmen. auf diese Weise hatte die regierung den maßgeblichen rahmen gesetzt, innerhalb dessen man die Wahrheit leugnete und ernsthaft glaubte, die realität sei etwas, das sich erschaffen ließ. Zugleich sorgten der staatliche rundfunk, das Fernsehen und das Bildungssystem für die darstellung einer gesellschaft, in der alle menschen beten, Predigten lauschen, dem ruf des muezzins folgen, an heilige Stätten pilgern und um ein langes leben für die Volksvertreter bitten. eine gesellschaft, in der alle so zufrieden sind, dass ihnen, in erwartung des jüngsten tags und des großen erlösers, Banalitäten wie arbeitslosigkeit, armut, inflation, teuerung, diskriminierung, ungleichheit und korruption kein kopfzerbrechen bereiten. die nach außen hin sichtbare gesellschaft bestärkte die herrschenden in ihrem irrglauben.
über vier Jahrzehnte hin haben weite teile der iranischen Bevölkerung ihre Sympathie für die Säkularität und die westliche lebensart geheim gehalten und waren den herrschenden, wie einst die spanischen marranen, ein verhasster dorn im auge. Wie einst die angehörigen dieser Bevölkerungsschicht passten die menschen sich in der Öffentlichkeit, schweigend und vom offiziell erwünschten Verhalten kaum abweichend, dem allgemeinen alltagsleben an, lebten in ihren eigenen vier Wänden aber nach ihren eigenen Vorstellungen – was die regierung zwar wusste, aber nicht zu erkennen gab. So entstand die keimzelle eines wachsenden Widerstands, der sich heute, insbesondere nach der großen Protestbewegung im vergangenen Jahr, unübersehbar Bahn gebrochen hat.
das doppelleben war keine dauerhafte Option, weil es uns die für ein menschenwürdiges, ehrbares leben nötige harmonie verwehrte. die regierung unseres landes, die alle Fäden in der hand hat, kann unseren alltag im öffentlichen raum nicht länger nach ihrem gutdünken bestimmen. es sei denn, sie täte es mit gewalt. genau deshalb müssen wir jederzeit damit rechnen, dass etwas großes, grundlegendes geschieht. auch wenn sich ausmaß, reichweite und Zeitpunkt eines solchen ereignisses nicht vorherbestimmen lassen, geben die tiefen Wunden, die unsere kollektive Psyche erlitten hat, anlass zu höchster Besorgnis. die diagnostizierten Symptome deuten auf große aufgestaute Wut hin, die der iranischen gesellschaft auch in früheren Zeiten bereits triebkraft verliehen hat. Sie könnte allerdings auch energie freisetzen, die sich deutlich zu unseren ungunsten auswirkt.
Warum wir in iran damit rechnen müssen, dass sich die aufgestaute Wut der menschen bald wieder Bahn bricht / Von Amir Hassan Cheheltan
Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich. Amir Hassan Cheheltan lebt in Teheran. Sein
jüngster Roman, Eine Liebe in Kairo, erschien
im vergangenen Jahr bei C.H. Beck.