Vor drei Jahren tötete in Iran ein fünfzehnjähriger Jugendlicher im Streit einen Spielkameraden. Das iranische Justizsystem verurteilte ihn dafür nach dem Talionsrecht zum Tode, und da seine Familie nicht imstande war, das Blutgeld für das Opfer zu bezahlen, musste er bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs und der Urteilsvollstreckung in Haft bleiben.
2008 hat sich die Anzahl der Hingerichteten, die als Minderjährige unter 18 Jahren zum Tode verurteilt worden waren, auf sechs erhöht. Amnesty International berichtet von weiteren hundertfünfzig Jugendlichen, die auf die Vollstreckung ihres Todesurteils warten.
Als iranische Medien vor wenigen Monaten die bevorstehende Hinrichtung des erwähnten Jungen ankündigten, riefen drei Filmschaffende (darunter der Schauspieler Ezatollah Entezami) die Bevölkerung zu Spenden auf, um die Freilassung des Todeskandidaten durch Bereitstellung des Blutgelds zu ermöglichen.
Der Aufruf stieß in der iranischen Bevölkerung auf riesige Resonanz, wovon sich wiederum die Familie des ermordeten Jugendlichen so sehr beeindruckt zeigte, dass sie sich bereit erklärte, die Genugtuungserklärung zu unterzeichnen und auf ihr Talionsrecht zu verzichten.
Zu Schweigsamkeit und Gehorsam verdammt
In einem beispiellosen Akt ließ jedoch die iranische Gerichtsbarkeit das Spendenkonto jäh sperren und die drei Filmschaffenden gerichtlich vorladen. Ein hoher Justizbeamter verurteilte ihre Aktion aufs schärfste und erklärte, "diese Personen beabsichtigten durch Eröffnung eines Bankkontos die öffentliche Meinung zu besänftigen und die Bevölkerung dahingehend zu beeinflussen, dass sie einen Gewaltverbrecher unterstützt. Dabei ist er ein Mörder, der mit Absicht getötet hat, und nach dem Talionsrecht zu bestrafen ist."
Der Vorsitzende der Teheraner Kriminalstaatsanwaltschaft verkündete, die Justiz sei "die einzige Instanz, die Spenden aus der Bevölkerung annehmen kann, um inhaftierten Personen gegebenenfalls zu helfen. Andere haben nicht das Recht, zu solchen Zwecken ein Bankkonto zu eröffnen."
Ferner hieß es, drohend, den Filmschaffenden seien "die Strafen für Betrugsdelikte augenscheinlich nicht bekannt. Ihnen droht eine Haftstrafe von ein bis sieben Jahren!"
Es ist offensichtlich, was diese Herren verärgert hatte. In Iran können Initiativen und Vorhaben, gleich welcher Art und mit welcher Absicht, nur von den Regierenden herrühren. Die Bürger sollen folgsam und ergeben sein.
Bedient euch, Männer!
Der Aufruhr um die drei Schauspieler hatte sich noch nicht gelegt, als sich im iranischen Filmwesen ein weiterer Skandal anbahnte. Eine junge talentierte Schauspielerin, Golshifteh Farahani, deren Auftritt in Ridley Scotts Film "Body of Lies" allgemeine Anerkennung gefunden hatte, wurde, als sie zu Verhandlungen über ein neues Angebot nach Hollywood fliegen wollte, auf dem Teheraner Flughafen mit einer gerichtlichen Verfügung konfrontiert. Der Verfügung zufolge war sie zur Ausreise nicht berechtigt.
In "Body of Lies" hatte sie den Gegenpart zu Leonardo di Caprio gespielt. Der jungen Frau wurde die Ausreise offenbar deshalb verwehrt, weil sie die Funktionäre des sogenannten Ministeriums für Islamische Führung (Kultusministerium), dem das iranische Filmwesen untersteht, nicht um Erlaubnis gebeten hatte.
In Iran ist die Regierung für alles zuständig, sie hat alles unter Kontrolle, sie entscheidet und verfügt über das Wohl und Wehe der Allgemeinheit. Ihr obliegt es, die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer sich die Bürger frei bewegen dürfen, und die Bürger müssen den Staat für jedes noch so kleine, noch so private Vorhaben um Erlaubnis bitten.
Lesen Sie auf Seite 2, wie der iranische Staat Männern ein ausgefülltes Sexualleben gewährleistet.
Die Gedankenpolizei
Diese Verantwortung erstreckt sich sogar bis in die Schlafzimmer, weswegen die Regierung sich kürzlich auch für jene Männer einsetzte, deren Bedürfnisse nicht durch eine einzige Frau zu befriedigen sind. Zu diesem Zweck hatte sie beim Parlament eine Gesetzesvorlage mit dem Titel "Familiengesetz" eingereicht. Im Wesentlichen besagt diese Gesetzesvorlage, dass die Ehelichung einer weiteren Frau ab sofort nicht mehr der Einwilligung der Erstfrau bedarf.
Nach Überprüfung der Vermögensverhältnisse des Mannes und der Zusicherung des Betreffenden, unter seinen Ehefrauen wirtschaftliche und sexuelle Gerechtigkeit walten zu lassen, genügt zur weiteren Eheschließung fortan eine gerichtliche Genehmigung.
Aktivistinnen der Frauenrechtsbewegung bezeichneten den Entwurf als Ausverkauf der iranischen Frau, verschiedene Organisationen und auch Geistliche protestierten derart heftig, dass die Vorlage wieder zurückgenommen wurde.
Nun aber hat ein Mitglied der Rechtskommission des Parlaments gesagt, der Wächterrat verlange, dass die Gesetzgebung mit den Grundsätzen der Scharia übereinstimmen müsse, ohne diesen Paragraphen sei das nicht der Fall. Er betonte, man dürfe bei der Gesetzesberatung nicht auf Aufruhr und das Geschrei der Straße achten.
Wahrscheinlich werden also vermögende und vermutlich gerechte Männer bald schon bis zu vier Frauen auf Lebenszeit und beliebig viele Frauen in Zeitehe heiraten dürfen. Falls aber eine Frau sich ihrem Mann verweigert, weil er eine oder mehrere andere Frauen geheiratet hat, wird ihr der Unterhalt verwehrt.
In Iran braucht niemand außer der Regierung über irgendetwas nachzudenken oder sich dazu eine Meinung zu bilden. Jede Gruppe, die in diesem Land an die Macht kommt, verfügt über die größten und hehrsten Ideen, weshalb sie ganz allein über die Beschaffenheit der Werte und Normen bestimmt. Dem Volk steht es besser an, sich weiterhin Urlaub vom Denken zu nehmen. Und diejenigen, die die hehren Ideen der Regierenden kritisch kommentieren, wurden zweifellos von fremden Subjekten infiltriert.
Oxford? Ein Papierfetzen!
Dennoch gibt es merkwürdigerweise Angelegenheiten, mit denen die iranische Regierung noch nicht zurande gekommen ist, unter anderem die Bewertung akademischer Titel. Noch steht nicht fest, ob ein akademischer Grad nur Grund für Stolz oder für Beschämung ist.
Als Präsident Ahmadinedschad dem Parlament seinen neuen Minister für Innere Angelegenheiten vorstellte, bezeichneten einige der Abgeordneten den Doktortitel des designierten Innenministers Ali Kordan als eine Fälschung. Selbstverständlich sprach ihm das Parlament sein Vertrauen aus, was die Attacken seiner Gegner allerdings weiter verschärfte.
Zur Eindämmung dieser Proteste verteilte der neu ernannte Minister am Rande seiner Amtseinführungszeremonie unter den anwesenden Journalisten Kopien seiner Doktorurkunde, die er angeblich von der Universität Oxford erhalten hatte.
In den folgenden Tagen veröffentlichte jedoch ein Abgeordneter auf seiner Homepage ein Schreiben, das ihm auf Anfrage von einem hochrangigen Mitglied der Oxforder Universität übermittelt worden war. In diesem Schreiben hieß es, dass die Universität keine Person dieses Namens kennen würde und ihr niemals ein derartiges Dokument ausgestellt hätte.
Kordan räumte ein, dass die Urkunde gefälscht war, sagte aber, er habe das nicht gewusst. Ahmadinedschad tat den Skandal mit den Worten ab: "Braucht man für den Dienst am Volk tatsächlich solch einen Papierfetzen?"
Krawattenträger unerwünscht
Die Islamische Republik hatte sich vor drei Jahrzehnten kaum etabliert, als sie auch schon mit der Demütigung ihrer Akademiker begann. Schließlich trugen diese Krawatten, beherrschten Fremdsprachen und waren mit Kenntnissen ausgestattet, die den neuen Machthabern, die Religionsstudien betrieben hatten oder zu den Kaufleuten im Basar gehörten, völlig fremd waren.
Ein, zwei Jahrzehnte später eigneten sich einige der Funktionäre, die in der Islamischen Republik wichtige administrative und politische Ämter bekleideten, allmählich akademische Titel an, und ihre Namen wurden in den Medien ehrfürchtig um den Zusatz "Doktor" ergänzt. Nun aber hat Ahmadinedschad zur Verteidigung seines Innenministers eine akademische Urkunde aus Oxford abermals als "Papierfetzen" bezeichnet.
Wir bitten den Paten höflichst, uns über diesen unbedeutenden Sachverhalt aufzuklären.
P.S.: Golshifteh Farahani durfte mittlerweile ausreisen, zwar nicht in die Vereinigten Staaten, aber immerhin nach Schweden.
BY : Zuddeutsche Zeitung