Das Aargauer Literaturhaus im Netz

Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus vielen verschiedenen Ländern schreiben exklusiv für uns Texte, die sich mit der aktuellen Corona-Situation auseinandersetzen; in der Wahl der Textform sind sie ganz frei. Die Texte sind jeweils nur wenige Tage online - aber sie werden im Herbst in Printformat erscheinen. Textrechte: © Aargauer Literaturhaus, Abdruck/Kopie verboten.

Nach den Texten von T.C. Boyle, Christina Viragh, Zsófia Bán, Robert Cohen, Etgar Keret, Stephan Thome, Steinunn Sigurðardóttir, Fabio Pusterla, A.L. Kennedy, Cécile Wajsbrot, Alejandro Zambra hier heute der Text, den uns der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan aus dem Iran geschickt hat, hier in der deutschen Übersetzung (der Text ist wie alle zwei Tage online, d.h. bis 28. Mai abends):

Frappierende Ähnlichkeiten von Amir Hassan Cheheltan

Aus dem Persischen von Jutta HimmelreichCheheltanFoto aargauer literaturhaus.ch

Am zweiundzwanzigsten Februar besuchen Freunde mich, wie verabredet, bei mir zu Hause, ohne zu wissen, dass es das letzte Mal sein würde. Meine Frau bringt abends aus ihrer Praxis mit heim, was sie tagsüber gehört hat, und nachdem ich ihre Berichte um aktuelle Meldungen und Gerüchte ergänzt habe, folgern wir daraus gemeinsam, dass wir alle Kontakte zur Außenwelt abbrechen müssen. Drei Tage zuvor hatten die Behörden die Erkrankung zweier Personen in der heiligen Stadt Ghom an COVID-19 erstmals offiziell bestätigt.

Meine Frau indes muss Patientinnen und Patienten mit Terminen nach wie vor in ihrer Praxis behandeln. Einige, so teilt sie mir am nächsten Tag mit, haben ihre Termine abgesagt. Erfreulich. Weil es zeigt, dass die Menschen die Gefahr erkannt haben. Meine Frau nimmt keine neuen Patienten an und bleibt wenige Tage später ganz zu Hause. Ich hatte tags zuvor einen letzten Ausflug in die Berge im Norden Teherans gemacht. Danach gingen wir beide in Quarantäne.

Als Zahnärztin war meine Frau bisher an vier Tagen der Woche nachmittags in ihrer Praxis und zweimal wöchentlich morgens in der Zahnklinik des nahen Krankenhauses tätig gewesen. Nun richtet man ihr aus, die Klinik stelle ihren Betrieb bis auf Weiteres ein. Der Presse entnehmen wir, die Regierung hat Schulen und Universitäten geschlossen, zunächst nur für drei Tage, dann für weitere drei Tage, dann bis zum Beginn des iranischen Neujahrs, sprich bis zum zwanzigsten März.

Damals ließ mich auch das Kulturinstitut, an dem ich einmal pro Woche kreatives Schreiben unterrichte, wissen, die Schreibwerkstatt falle in der betreffenden Woche aus. Doch auch das Institut ist nach wie vor geschlossen. Zum Glück sind sich alle der bestehenden Gefahr bewusst. Internationale Fernsehnachrichten informieren uns direkt über die Lage in anderen Ländern. „Zu Hause bleiben!“ lautet der Rat an alle Menschen weltweit. Zu Freunden und Bekannten halten wir telefonisch Kontakt. Auch sie sind mittlerweile in Quarantäne. All das vollzieht sich binnen weniger Tage.

Mich beschleicht unterdessen eine unerklärliche Beklemmung. Ist mir diese Situation wirklich neu? Tagein, tagaus zu Hause bleiben. Angespannt sein. Aufschrecken, wenn das Telefon oder jemand an der Haustür klingelt. Meine Frau hilft meinem schwachen Gedächtnis auf die Sprünge, eines Morgens, beim Frühstück: „Jetzt bist du rund um die Uhr zu Hause, genau wie damals!“

Damals? Plötzlich, wie in einer geheimen Offenbarung, ist die Erinnerung wieder da. Ja, genau wie damals, im Herbst 1998, zur Zeit der Kettenmorde an Autorinnen und Autoren. Ich kann nicht zu Ende frühstücken. Sicherheitskräfte machten damals öffentlich Jagd auf Schriftsteller, Schriftstellerinnen. An sicheren Orten brachten sie sie unbeobachtet um und ließen ihre Leichen dann irgendwo in Teherans abgeschiedenen Randbezirken liegen.

„Bleib am besten zu Hause“, rieten Kollegen mir, sofort nachdem mein Freund und Kollege Mokhtari verschwunden war. Mir saß die Angst tatsächlich in den Knochen. Aus einem einfachen Grund: Ich wollte nicht sterben. Schließlich hatte ich meine besten Werke noch nicht verfasst. Und das vielleicht bis heute nicht. Mokhtari gehörte, wie ich, dem kleinen - von uns als Beratergremium bezeichneten - Kollektiv an, das für die Wiederbelebung des iranischen Schriftstellerverbands und gegen die Zensur eintrat. Wir waren bereits seit geraumer Zeit Verfolgungen und Drangsalierungen durch die Geheimpolizei ausgesetzt.

Heute fühle ich mich zumindest in meinen eigenen vier Wänden sicher, ganz anders als damals. „Geheimpolizisten schlüpfen in die unterschiedlichsten Rollen“, hatten Kollegen mich gewarnt und erläutert: „Sie drängen sich unter jedem nur erdenklichen Vorwand in dein Alltagsleben. Der eine als Installateur, der angeblich was reparieren muss. Ein anderer als Paketbote, dessen Lieferung du per Unterschrift quittieren sollst.“ So kam es, dass ich tatsächlich niemandem aufmachte.

Als dann Mokhtaris Leiche gefunden wurde, hatte die selbstverhängte Ausgangssperre keinen Sinn mehr. Unser Beratergremium traf sich bei Mokhtari zu Hause und schrieb einen offenen Brief, der einerseits die Bevölkerung über diese blindwütigen Morde aufklären, zum anderen die Regierung vor den Folgen ihres gefährlichen Spiels warnen sollte. Zeitgleich aber erfuhren wir von der Entführung eines weiteren Kollegen auf offener Straße.

Auf diese Geschichte will ich hier nicht näher eingehen, da ich die Ereignisse andernorts oft angesprochen und bei vielen Anlässen auch ausführlich geschildert habe. Hier und jetzt liegt mir vielmehr an der Darstellung der Ähnlichkeiten zwischen meinen Erlebnissen von einst und der heutigen Lage. So besteht eine weitere Parallele zu den damaligen Vorkommnissen in der Tatsache, dass wir auch heute nur in Ausnahmefällen das Haus verlassen, etwa, um einzukaufen, möglichst gleich für zwei, mitunter gar für mehrere Wochen.

Heute heißt es, „Weil das Virus überall ist, sind dauerhaft Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten.“ Dasselbe galt auch damals. So stiegen wir zum Beispiel in kein Taxi mehr, weil Geheimpolizisten auch in Gestalt dienstbereiter Chauffeure zur Stelle gewesen wären, sobald wir einen Fuß vor die Tür gesetzt hätten. Beinahe jedes Haustürklingeln ging mir damals durch Mark und Bein. Und wenn das Telefon klingelte, erschrak ich fast zu Tode, weil es die Nachricht von der Entführung eines weiteren Kollegen, einer Kollegin hätte bringen können.

Damals verloren die zuständigen Stellen zunächst kein Wort über diese Morde und schrieben sie später den iranischen Sicherheitsapparat angeblich unterwandernden ausländischen Kräften zu. Heute geschieht im Zusammenhang mit dem Virus praktisch dasselbe. Anfängliches [Ver-]Schweigen, dann landesweite Medienkampagnen zur Beschuldigung von Landesfeinden, die die Gefährlichkeit des Virus übertreiben, um unser Land lahmzulegen. Kaum tritt irgendein Unheil ein, ist es in Regierungskreisen hierzulande längst gang und gäbe, Iran feindlich gesinnte Länder ins Spiel zu bringen, um die eigene Ineffizienz, das eigene Missmanagement zu überspielen.

Sobald die durch COVID-19 bedingten Einschränkungen Erinnerungen an die bitteren Ereignisse vor mehr als zwanzig Jahren wecken, bin ich angespannter als sonst. Doch neben den vielen Ähnlichkeiten zwischen damals und heute bestehen auch deutliche Unterschiede. Etwa der, dass heute meine Frau an meiner Seite ist. Damals musste sie täglich arbeiten gehen.

Gegenwärtig ist sie zu Hause, kocht regelmäßig, während damals ich hin und wieder das Kochen übernommen habe. Und sie backt jede Woche einen leckeren Kuchen. Abgesehen davon liest sie viel, und sie treibt Sport. Natürlich verfolgt sie auch die Nachrichten, die ihre berufliche Tätigkeit betreffen. Zahnarztpraxen sind weiterhin geschlossen zu halten, dürfen nur Notfälle behandeln und haben alle erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Das heißt, die Praxisräume sind mittels keimtötender UV-Lampen zu desinfizieren, und es müssen hocheffiziente Speichelsauger zum Einsatz kommen. Da solche Geräte auf dem freien Markt entweder nicht erhältlich oder unerschwinglich teuer sind, können nur wenige Praxen sie sich leisten. „An wen wendet sich jemand mit einer Zahnentzündung in dieser Situation?“ Meine Frau wiederholt diese und ähnliche Fragen ständig, und man sieht ihr an, wie schwer ihr die Lage zu schaffen macht. Anrufe in ihrer Praxis lässt sie auf ihr Handy umleiten, weil sie mit ihren Patientinnen und Patienten persönlich sprechen will. So, sagt sie, kann sie nicht nur medizinischen Rat geben, sondern auch seelischen Beistand leisten.

Ich verbringe derweil fast den ganzen Tag in meinem Zimmer. Arbeite an einem Roman, der in Kairo spielt, 1947. In dem Jahr, in dem, damaligen Zeitungsberichten zufolge, die Cholera in Ägyptens Hauptstadt täglich 500 Tote forderte. Ganz Ähnliches erlebe ich heute mit.

Mich in Arbeit stürzen, fällt mir leicht. Schreiben verdrängt bisweilen sogar meine Gedanken an die Geschehnisse im Herbst 1998. Doch es lässt noch genug Raum für die Frage, was ich schwerer erträglich finde: den mutierenden Corona-Virus oder den Mörder, der in wechselnder Gestalt Autoren jagt?

Textrechte: © Aargauer Literaturhaus, Abdruck/Kopie verboten.

Amir Hassan Cheheltan, geboren 1956 Teheran, veröffentlichte 1976 seinen ersten Erzählband, Ehefrau auf Zeit. Er beendete sein Studium der Elektrotechnik in England. Darauf folgten Wehrdienst und Einsatz im Irakkrieg (1980-88). Während des Krieges entstand sein erster Roman, Die Klage um Qassem, der jedoch erst 2002 unter strengen Auflagen erscheinen durfte. Insgesamt hat er bisher sechs Romane und fünf Erzählbände veröffentlicht; in Deutsch erschienen ist zuletzt: Der Zirkel der Literaturliebhaber. Roman (C.H. Beck, München 2020). Cheheltan hielt sich mit seiner Familie wegen der Bedrohung durch das Regime zwei Jahre in Italien auf. Er lebte in Berlin und Los Angeles, und heute wieder in Teheran.

 

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