Interview: Omid Rezaee
David, ein junger Brite, verliebt sich nach der Lektüre eines Geburtstagsgeschenks in die Verse von Omar Chayyām – und nach und nach auch in die Literatur und Kultur Irans. Mitte der 2010er Jahre reist er in den Iran, um dort eine Online-Bekanntschaft persönlich zu treffen. Aus der Begegnung mit seinem Gastgeber Nader – einem älteren Schriftsteller – und dessen junger Freundin Nasrin entwickelt sich eine zerstörerische Dreiecksbeziehung. Amir Hassan Cheheltan nutzt diese Liebesgeschichte, um ein eindrückliches Porträt der politischen und gesellschaftlichen Zustände im Iran der 2010er Jahre zu zeichnen – oder zumindest das eines bestimmten Milieus. Durch zahlreiche historische, politische und soziale Verweise geht sein Roman Die Rose von Nischapur, der im Oktober 2024 auf Deutsch in der Übersetzung von Jutta Himmelreich erschienen ist, weit über eine ungeschönte Liebesgeschichte hinaus.
Auf den ersten Blick könnte man den Roman als klischeehaft abtun: „Junge Menschen in Teheran leben ein geheimes Leben, trinken Alkohol, haben außereheliche Beziehungen und verstoßen gegen Gesetze.“ Dieses Bild hat sich spätestens seit den 2000er Jahren zu einer populären westlichen Erzählung über die iranische Gesellschaft entwickelt. Doch Cheheltan geht weit darüber hinaus: Er legt verborgene Schichten dieser Gesellschaft offen, durchdringt mit Verweisen auf die klassische persische Literatur die politische Geschichte und zeichnet ein lebendiges Bild Teherans – einer Stadt, in der heute Smog und Beton mehr zählen als der Mensch. Der britische Chayyām-Leser David wird – gemeinsam mit den Leser*innen – durch die Viertel einer Stadt geführt, die unter der Herrschaft von „Scharlatanen“ leidet. Die Rose von Nischapur ist auch eine historische Expedition durch Teheran.
Es ist nicht das erste Werk Cheheltans, das nicht auf Persisch erscheinen durfte: Auch sein Roman Liebe in Kairo liegt bislang nur in deutscher und weiteren Übersetzungen vor. Seine Teheran-Trilogie ist ebenfalls erst nach ihrer Veröffentlichung auf Deutsch und in anderen Sprachen auch auf Persisch erschienen, allerdings im deutschen Exil, so dass das eigentliche Publikum – die iranische Leserschaft – immer noch keinen unmittelbaren Zugang zu den Texten hat.
Ein Gespräch mit Amir Hassan Cheheltan – geboren 1956 in Teheran – über Die Rose von Nischapur, Teheran, Zensur, Politik und Erzählung. Das Interview wurde im Dezember 2024 schriftlich geführt.
Ihr neuer Roman Die Rose von Nischapur wurde zuerst auf Deutsch veröffentlicht, noch bevor persischsprachige Leser*innen Zugang dazu hatten. Es ist nicht das erste Mal, dass Ihre Romane – obwohl Sie ein persischsprachiger Autor sind – zuerst im Ausland erscheinen. Wie gehen Sie als Autor, dessen wichtigstes Werkzeug die Sprache ist, mit dieser Realität um? Wie fühlen Sie sich dabei, dass Ihr eigentliches Publikum Ihre Werke gar nicht oder erst später lesen kann?
Seit der Veröffentlichung meines ersten Buches sind genau 48 Jahre vergangen. Fast drei Jahrzehnte davon haben mein Verleger oder ich damit verbracht, heranwachsende Junge Männer und Frauen, die keinerlei Ahnung von Literatur hatten und einzig mit dem Ziel an den Schreibtisch [der Zensurbehörde]* gesetzt worden waren, den Autor zu demütigen, davon zu überzeugen, dass durch die Veröffentlichung meiner Bücher keine Macht gestürzt werden würde. Doch sie wollten uns nicht glauben. Vor zwanzig Jahren beschloss ich, dieses absurde Spiel nicht mehr mitzuspielen. Das Interesse europäischer Verlage an der Übersetzung und Veröffentlichung meiner Werke war schon etwas früher erwacht. Es belastet mich jedoch bis heute, dass meine persischsprachigen Leser*innen keinen Zugang zu meinen Büchern haben.
In Die Rose von Nischapur erzählen Sie von den intimsten Aspekten des Lebens – von Liebe und Familie – und führen von dort zu politischen und gesellschaftlichen Fragen. Diese Art des Erzählens findet sich auch in früheren Werken wie der Teheran-Trilogie. Sind Themen wie Liebe und Familie für Sie also nur ein Mittel, um größere gesellschaftliche oder politische Fragen zu behandeln – oder sind Ihnen auch diese privaten Ebenen an sich wichtig?
Es kann durchaus auch umgekehrt sein: Die gesellschaftlichen Verhältnisse können ein Vorwand sein, um die tiefgreifenden, oft zerstörerischen Auswirkungen von Politik auf den Einzelnen oder die Familie zu zeigen. Tatsächlich interessiert mich die Geschichte, nicht das Politische im engeren Sinne. Wie sollte man die Menschen von ihrer Geschichte trennen? Man darf nicht vergessen, dass in jedem literarischen Text auch ein politischer Subtext existiert. In diesem Punkt stimme ich Fredric Jameson voll und ganz zu.
In Die Rose von Nischapur ist Teheran nicht bloß der Schauplatz der Handlung, sondern selbst eine lebendige Figur. Schon in Ihrer Teheran-Trilogie ist die Stadt ein zentrales Element. Wie wurde Teheran zu einem so wichtigen Bestandteil Ihrer literarischen Arbeit?
Teheran ist wie eine Welt für sich – vielschichtig, rätselhaft, politisch chaotisch, zutiefst nervös. Kein Ort ist für mich so faszinierend und zugleich so erschütternd. Die geballte Energie dieser Stadt elektrisiert mich und bringt mich gleichzeitig durcheinander. Wenn ich genau hinsehe, erkenne ich eine Stadt, die ihre eigene Schmerzgrenze täglich nach oben verschiebt – das ist erschreckend. Seit ich denken kann, war ich nie imstande, mich vom Lärm, der Gewalt und dem kollektiven Wahnsinn dieser Stadt zu lösen.
Teheran überschreitet ständig die Grenzen der Realität, zerstört mit neuen moralischen Gesetzen das Innenleben seiner Bewohner*innen. Es ist auf degenerierte Weise modern, fasziniert von Verfall und Chaos. Deshalb denke ich: Es gibt nichts Schwierigeres, als Teheran als Heimat und Elternhaus zu haben. Einerseits fühle ich mich im Leben dort gefangen, andererseits eröffnet mir die Stadt unendlich viele Perspektiven und Beobachtungsmöglichkeiten. Daraus entstehen die unterschiedlichsten inneren Räume. Teheran ist der Keim der Teheran-Trilogie. Man muss sich diese Stadt genau und aus nächster Nähe ansehen. Ich habe in dieser Trilogie gezeigt, wie alle Zeichen in dieser Stadt bereits auf die Revolution von 1979 hindeuteten. Lebendigkeit bedeutet in Teheran oft einen Mangel an Spiritualität. Die Stadt ist von ihrer Geschichte losgelöst, sie ist in den Händen von Scharlatanen – das ist die Wurzel der Krise.
In Die Rose von Nischapur rufen Sie immer wieder die klassische persische Literatur auf – vor allem Omar Chayyām – und verweisen auf Übersetzer*innen und Orientalist*innen, die persische Werke im Westen bekannt machten. Auch Themen wie Homosexualität in der Literaturgeschichte des Iran werden angesprochen. Glauben Sie, dass der Rückgriff auf die eigene literarische Tradition Antworten auf die Widersprüche der iranischen Gegenwart liefern kann?
Lösungen zu liefern ist nicht Aufgabe der Literatur. Ihre einzige Aufgabe ist es, den Konflikt zwischen Mensch und Schicksal zu erzählen. Die klassische persische Literatur ist ein zeitgenössisches Phänomen, weil sie authentisch ist. Gleichzeitig ist dieser Roman, wie alle meine Romane, geprägt von Ideen, die er zu reflektieren versucht. Die Rose von Nischapur enthält alles – Geschichte, Literatur, den Diskurs zwischen Orient und Okzident. Schreiben heißt, sich auf zufällige Schritte einzulassen.
Sie zählen inzwischen zu den meistübersetzten iranischen Autor*innen. Wie erleben Sie den Prozess der Übersetzung? Haben Sie Kontakt zu Ihren Übersetzer*innen? Und ganz grundsätzlich: Wird Ihrer Meinung nach persische Literatur genug in andere Sprachen übertragen?
Ich habe in der Regel Kontakt zu meinen Übersetzer*innen, weil sie zum Glück meist direkt aus dem Persischen arbeiten. Es gab bisher nur zwei Ausnahmen: Der Kalligraph von Isfahan wurde aus dem Deutschen ins Litauische übersetzt, und Teheran – Revolutionsstraße aus dem Englischen ins Französische. Die zeitgenössische persische Literatur bleibt weiterhin in der Peripherie. Ihre eigentlichen Hüter sind machtlos, und die offiziellen Vertreter behandeln sie mit Gleichgültigkeit.
Der zentrale Grund dafür, dass Sie Ihre Werke zunächst auf anderen Sprachen veröffentlichen, ist die Zensur. In Ihren Texten und Interviews üben Sie permanent scharfe Kritik an Zensur. Welche langfristigen Folgen hat die staatliche Zensur für die iranische Literatur? Ist sie heute überhaupt noch wirksam, wo es doch alternative Veröffentlichungskanäle gibt?
Zensur ist ein veraltetes Mittel, um Gedanken und Ideen zu lenken. Aber ich glaube: Erst wenn ein Buch im Regal einer Buchhandlung steht, wird es wirklich sichtbar. Der literarische Markt im Iran ist ohnehin schwach. Bücher haben keinen hohen Stellenwert, und Autor*innen genießen kaum Ansehen. Die staatliche Diskriminierung ist tiefgreifend, sie gefährdet sogar die persische Sprache selbst. Offensichtlich sind in den Romanen unabhängiger Autor*innen große Kräfte verborgen.
Nach der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung erklärten viele Schriftsteller*innen, Übersetzer*innen und Künstler*innen, dass sie der Zensur nicht länger nachgeben würden. 100 Übersetzer*innen kündigten an, ihre Werke nicht mehr zur Genehmigung einzureichen. Theaterschaffende sagten, sie würden nicht mehr mit Hijab auf die Bühne gehen, Filmschaffende weigerten sich, unter Zwangsverschleierung zu drehen. Eine neue, radikale Form des Widerstands scheint begonnen zu haben. Hat sich Ihrer Ansicht nach der Widerstand gegen die Zensur grundlegend verändert?
Diese neue Entschlossenheit zeigt sich in allen Bereichen. Zensur will die Verbindung der Literatur zu ihrer Entstehungsumgebung vollständig kappen. Aber die Autor*innen leisten Widerstand. Unsere Texte sind durchdrungen von Mitgefühl – und verdienen keine Feindschaft. Literatur ist keine Bedrohung.