Vor kurzem erschütterte ein schwaches Erdbeben Teheran. Die Menschen stürzten aus Furcht vor nachfolgenden Beben auf die Straßen, und plötzlich stellte sich heraus, daß sie keinen Zufluchtsort haben, weil in vielen Gegenden Teherans keine Grünflächen existieren. Zugleich entbrannte in persischen Tageszeitungen eine Diskussion über die faktische Gefahr, die von den zahlreichen Verwerfungen ausgeht, auf denen die Stadt mit ihren elf Millionen Einwohnern liegt.
Das Ereignis war in aller Munde, und die Diskussionen speisten sich gelegentlich aus den furchterregenden apokalyptischen Szenarien der Fachleute, die nach dem Muster von Katastrophenfilmen über Begleiterscheinungen wie Großbrände, zerstörerische Überflutungen, einstürzende Wolkenkratzer, umstürzende Masten der Hochspannungsleitungen (die an manchen Orten Teherans die Stadtautobahnen überqueren), blockierte städtische Highways und millionenfache Opfer sprachen.
Krankhaftes Vergnügen
Die Mehrheit der Bevölkerung bekundet ein krankhaftes Vergnügen an diesen Diskussionen, als wolle sie durch ständige Wiederholung das Ausmaß der Katastrophe verstärken. Die dadurch entstandene Eintracht und Empathie zwischen den Bewohnern Teherans ist augenscheinlich mit einer sonderbaren Ausgelassenheit verbunden. Das darf allerdings nicht weiter verwundern, sind doch in unserer Kultur Tod und Erlösung einander eng verwandt, weshalb bisher auch kaum jemand etwas zur Eindämmung der Gefahren unternahm.
Zwei, drei Wochen später sagte ein Seismologe bei einem Seminar, das sich mit Vorkehrungen zur Senkung der Opferzahlen bei potentiellen weiteren Erdbeben beschäftigte: "Teheran gleicht einer Person mit fortgeschrittenem Krebs, die alle Ärzte aufgegeben haben." Seine Worte enthielten mithin eine deutliche Botschaft: Von nun an würden nur noch Beschwörungen, Gebete oder Zaubersprüche helfen.
Ergebenheit und Demut
In vergangenen Zeiten (allerdings sind diese für uns noch keineswegs vergangen) galt ein Erdbeben als vom Himmel gesandtes Geschick, dem sich die Menschen vollkommen schutzlos ausgeliefert wähnten, weswegen sie sich auch nicht sonderlich anstrengten, um die zerstörerischen Folgen einzudämmen. Diese Haltung der Ergebenheit und Demut hatte eine tröstliche Wirkung auf die Seele des iranischen Menschen.
Was die Fortschritte in Wissenschaft und Technik betrifft, mit deren Hilfe sich die Entwicklung eines Erdbebens, gefährdete Zonen und die ungefähre Stärke einer Erschütterung feststellen lassen, so ist der einzige Nutzen, den der iranische Mensch daraus zieht, eine tiefe und schmerzliche, aber vorübergehende Erregung. Jedoch ergreift er keine vorbeugenden Maßnahmen zur Verringerung der Folgeschäden.
Versteigerung von Mädchen
Die Debatten über das Teheraner Erdbeben waren noch nicht verstummt, als eine Nachrichten-Website die nächste Katastrophe verkündete: In den kommenden Tagen würden iranische Mädchen, Jungen und Frauen in Fujeirah, einem Scheichtum der Vereinigten Arabischen Emirate, versteigert. Der iranische Botschafter in den Arabischen Emiraten, der Teheraner Regierungssprecher und die Befehlshaber der Sicherheitskräfte dementierten diese Nachricht vehement.
Der Präsident der Islamischen Republik beauftragte jedoch plötzlich den Informationsminister, die Angelegenheit zu verfolgen. Und im selben Augenblick, als der Generaldirektor der Behörde zur Bekämpfung sozialer Untugenden die Nachricht als unwahr abtat, erklärte der Oberstaatsanwalt Teherans, man habe drei Händlerbanden verhaftet, die Mädchen in die Anrainerstaaten des Persischen Golfs verkauft hatten. Ein iranischer Journalist fragte mutlos: "Wer wird uns vor uns selbst beschützen?"
Mittelalterliche Denkstrukturen?
Es ist offensichtlich, daß wir Iraner unser Leben selbst gestalten, aber was bedeutet es, iranisch zu sein, und was ist die essentielle Definition dieses Zustands? Begegnet der iranische Mensch modernen Phänomenen nach wie vor mit mittelalterlichen Denkstrukturen? Welche Merkmale besitzt die Welt des iranischen Menschen? In welchem Maße sind von außen zugefügte Schäden für die Finsternis, Wirrnis oder die Widersprüche dieser Welt verantwortlich, und inwieweit sind diese Beschädigungen als charakteristische Merkmale dieser Welt zu werten?
In der iranischen Kultur gibt es einen Begriff für "Ehre", dem die Wörterbücher unterschiedliche Bedeutungen zuordnen. Im Alltag wird er jedoch als "Frauen einer Familie, die einem Mann angehören", aufgefaßt, hat also vorrangig eine sexuelle Konnotation, die dermaßen sakrosankt ist, daß man auf diese Ehre schwört und daß für Iraner keine höhere Pflicht existiert, als sie zu bewahren.
Es heißt, im Fall der Eroberung Irans zähle die Zerstörung unserer Ehre zu den Greueln, die jener reale oder imaginäre Feind unseres Landes verüben würde, den sämtliche Regierende in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren als potentielle Gefahr beschworen haben. Das Wort "Ehre" gleicht einer Beschwörungsformel, die jede Art von Mobilisierung in diesem Land ermöglicht und die alle anderen Schlagworte wie "Heimaterde", "Vaterland" oder "Land der Vorväter" in den Schatten stellt.
Unzulängliche Mittel
Prostitution, sagt man, zähle zu den ältesten Berufen der Welt. Vor der islamischen Revolution besaßen viele Großstädte in Iran kleine oder größere Bordelle. Nach Ausbruch der Revolution glaubten jedoch die Verantwortlichen, man benötige sie nun nicht mehr, und sie erließen Gesetze, um die Betreiber solcher Etablissements strafrechtlich zu verfolgen. Doch heute stellt sich heraus, daß sich die betreffenden Händler durch den inländischen Überschuß an Menschen veranlaßt sehen, ihn illegal ins Ausland zu exportieren. Und wir sehen, mit welch unzulänglichen und übereilten Maßnahmen die Behörden auf aktuelle Phänomene wie Menschenhandel und organisierten Frauenschmuggel reagieren - als könne man diese Verletzung der "Ehre" nur durch ihre Verheimlichung kurieren.
Am selben Tag berichtete ein Teheraner Spezialist für Nierentransplantationen, daß in Iran die Zahl der Personen, die eine Niere verkaufen wollen, die Zahl jener, die eine Niere benötigen, um ein Vielfaches übersteige. Weshalb sollten wir uns darüber wundern, daß die Anbieter von Nieren auf einem unvorteilhaften Markt nach Ersatzlösungen suchen, insbesondere, wenn es sich dabei um Mädchen oder junge Frauen handelt?
Viele Sexualdelikte
Zur selben Zeit ließ das Innenministerium zufällig verlautbaren, in Iran würden jährlich 72000 Sexualdelikte erfaßt, und eine Tageszeitung zitierte eine informierte Quelle aus demselben Ministerium, die tatsächliche Zahl liege weitaus höher. Als wichtigsten Grund, solche Delikte den Behörden nicht zu melden, bezeichnet dieser Informant die Furcht der Opfer vor Ehrlosigkeit.
Mit Aids und der Geißel der Drogensucht wird ähnlich verfahren. Das ist das Schicksal einer Gesellschaft, die moralisch bleiben will, während inländische Zeitungen melden, Iran rangiere im Jahresbericht von Transparency International über "verantwortungsbewußte Staatsführung und Korruption" weltweit an achtundsiebzigster Stelle.
Westliche Parameter
Viele Jahrhunderte lang hieß es, wir seien Muslime, und das genügte. Unsere Gedankenwelt stimmte mit der sichtbaren äußeren Welt vollkommen überein. Aber seit mehr als einem Jahrhundert sind westliche Parameter aufgetaucht, und es stellt sich die Frage, wie man mit ihnen umgehen soll; mit Parametern, die selbst einem ständigen Wandel unterliegen und deren Übernahme sich für eine kulturell von Ergebenheit und Nachahmung geprägte Gesellschaft in eine komplizierte Angelegenheit mit krisenhaften Folgen verwandelt hat. Diese Krise ist durch den Mangel gewisser Elemente in unserer vergangenheitsorientierten Kultur entstanden, und zwar, weil die Welt ihre Entwicklung fortgesetzt hat, während wir in weit zurückliegenden Zeiten verharren.
Ein anderes Beispiel: Als Mohammad Chatami vor sieben Jahren zur Präsidentschaft gelangte, folgerten viele Iraner daraus, daß sich die demokratischen Bemühungen in Iran ihrem Ziel näherten, wenngleich diese Schlußfolgerung hauptsächlich auf einer messianisch orientierten Auffassung beruhte. Also auf einer ausgeprägt religiösen Vorstellung, die beinahe allen wichtigen Weltreligionen zu eigen ist und in erster Linie davon zeugt, daß es bis zum wahren Verständnis von Demokratie in Iran noch ein weiter Weg ist.
Nicht weiter wie bisher
Es ist offensichtlich, daß Iran wie viele andere Länder des Nahen Ostens und sogar Asiens und des Fernen Ostens Vergangenes nicht wie gewohnt fortsetzen kann. Abgesehen davon steht außer der westlichen Erfahrung kein weiteres empirisches Modell zur Verfügung. Doch wie kann man westliche Modelle übernehmen, wenn die kulturelle Atmosphäre der Gesellschaft und die Denkstrukturen ihrer Mitglieder keinerlei Fähigkeit zu ihrer Akzeptanz zeigen?
Über einen langen Zeitraum ihrer Geschichte glaubten die Muslime, sie verfügten über die maßgebliche Kultur der Welt. Ihre Territorien bezeichneten sie als "dar ul-Islam" (Gebiet des Islam) und zählten die restliche Welt zum "dar ul-kofr" (Gebiet der Blasphemie) oder nahmen sie gar nicht wahr. Und sie beharrten auf diesem Dualismus. Und auch wir glauben immer noch, Iran sei nur wenig kleiner als die gesamte Welt.
BY: F.A.Z