Letzte Station vor der Hölle
Alle Angelegenheiten in dieser Stadt werden auf später verschoben – manche sogar auf die Zeit nach dem Tod / Von Amir Hassan Cheheltan
Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten. Schon 2015 wird es weltweit 60 Megacitys geben, in denen mehr als 700 Millionen Menschen zu Hause sein werden. Wir baten Schriftsteller aus einigen der größten Städte der Welt, uns ihren Heimatort zu beschreiben. SZ
In Teheran entspricht das Hadern mit den herrschenden Verhältnissen beinahe einer Art Lebensphilosophie, und seit zwei, drei Jahrzehnten haben wir Teheraner unsere Gereiztheiten auf die gesamte Welt ausgedehnt. Schließlich sind wir Eigenlob gewöhnt und behaupten ständig, das Bild, das westliche Medien vom „iranischen Leben” verbreiteten, hätte nichts mit der Wahrheit zu tun. Dennoch ist es uns nicht gelungen, der Welt eine neue Wahrheit aufzunötigen.
Weshalb ist dieses Bild nicht real? Weil es nicht nur vom geheimnisvollen Orient erzählt, sondern auch Details hervorhebt, die wir für unbedeutend halten? Die Wahrheit ist, dass Allgemeinheiten bedeutungslos sind, weil sie in der gesamten Welt fast gleichartig sind. Unterschiede manifestieren sich in Details, in kleinen, unwichtigen Begebenheiten, die westlichen Blicken stets verborgen bleiben, nicht jedoch mir: dem Romanautor und Teheraner.
Welche Elemente Teherans gehören der Vergangenheit an? Welche sind neu und modern? Welche Elemente der Vergangenheit dieser Stadt sollte man beibehalten, um eine bessere Zukunft zu gestalten? Eine grundsätzliche Antwort auf diese Frage könnte vermutlich viele unserer Probleme lösen, ich bin mir aber fast sicher, dass wir Orientalen, selbst wenn wir modern leben, am Ende traditionell sterben werden.
Warten auf Gina
Siebenjährig nahm meine Mutter mich in der Dämmerung eines heiteren Frühlingsabends zum Teheraner Flughafen mit; die von ihr heiß geliebte Schauspielerin Gina Lollobrigida kam nach Iran. In der riesigen Menschenmenge, die zur Begrüßung des italienischen Filmstars gekommen war, gelang es der verzweifelten Polizei nicht, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Gina kam und ging, ohne dass meine Mutter sie zu Gesicht bekommen hätte; allerdings verfolgte sie die Nachrichten über ihren Teheran-Besuch in den Zeitungen. Ein, zwei Tage nachdem Gina Teheran verlassen hatte, erlebte diese Stadt eine ihrer größten politischen Demonstrationen. Die Bewohner der südlichen Stadtteile stürmten zur Unterstützung von Ayatollah Chomeini die Straßen und wurden von der Polizei des Schahs gewaltsam auseinander getrieben. Fünfzehn Jahre später kehrte Chomeini, dem es inzwischen gelungen war, den Schah aus dem Land zu vertreiben, triumphierend zurück nach Teheran.
Inwieweit entspricht Teheran dem Klischee westlichen Beobachter von einer orientalischen Stadt aus Tausendundeiner Nacht mit Basaren, Kuppelbauten, Minaretten und Menschen mit mysteriösen schwarzen Augen? Ein Abbild, das in den vergangenen drei Jahrzehnten durch mächtige Mullahs in Latschen, die Fatwa gegen Salman Rushdie, Terrorismus und Atomkraft ergänzt worden ist.
Um Teheran als kulturelles Phänomen zu begreifen, muss man der Stadt unvermittelt begegnen, als Teheraner ziehe ich es jedoch vor, mich von der Stadt zu entfernen, um sie lieben zu können. Haben die Klischees sogar mich beeinflusst? Andererseits erfüllt mich die Anwesenheit in meiner Stadt, die eine ungeheure Katastrophe durchlebt, stets mit geheimer Begeisterung, Aufruhr und Entzücken.
Teheran kann man nicht von seiner politischen Geschichte trennen, weil diese Stadt seit hundert Jahren keinen Frieden kennt. Seit einem Jahrhundert ist – ähnlich wie bei einem Ausnahmezustand – alles an Teheran ein Provisorium.
Vielleicht könnte man Teheran folgendermaßen charakterisieren: gewaltig, aber unter totaler Kontrolle von Smog und Lärm, voller Ramsch und Kitsch, voller kleiner Verbrechen, großer widersinniger Leichtfertigkeiten und politischer Torheiten. Diese Stadt ohne Erinnerung, die kaum alte Gebäuden hat, infiziert ihre Einwohner mit dem Virus der Nostalgie! Teheran besitzt eine Million Häuser, und noch haben die Ästheten und Psychologen nicht feststellen können, ob diese Bauten den Denkstrukturen der Teheraner entsprechend – oder im Widerspruch zu diesen errichtet worden sind.
Nach den Landreformen des Schahs im Jahr 1962 wurden die iranischen Großstädte von der Landbevölkerung überrannt. Teheran stand immer im Zentrum dieser Invasion. Grundsätzlich wird Iran wie ein Kartenspiel ständig neu gemischt: Vierzig Prozent der Teheraner Bevölkerung haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten hier angesiedelt, ungefähr die gleiche Einwohnerzahl ist in dieser Zeit nach Europa und Nordamerika emigriert.
Teheran ist eine Megacity, die von Trabantenstädten umzingelt wird, denen allerdings noch ein Ring von suburbanem Wildwuchs und Hausbesetzern folgt. Man schätzt, dass es viereinhalb Millionen solcher illegalen Stadtbewohner gibt. Während die Teheraner Bevölkerung um ein Prozent jährlich wächst, hat sich die Zahl der Randbewohner in wenigen Jahren um achtzig Prozent erhöht. Die wahre Bedrohung Teherans liegt darin, dass diese Masse beim Auftauchen eines neuen Bonaparte die Mauer zwischen sich und den Teheranern zum Einsturz bringen könnte. Vor rund dreißig Jahren hat genau das schon einmal stattgefunden. Im Februar 1979 sprach mindestens die Hälfte der Revolutionsführer einen dörflichen Dialekt.
Die Feiertage meiner gesamten Jugendzeit verbrachte ich in den Lichtspieltheatern des „Lalehsar-Viertels”, das zwei, drei Jahrzehnte zuvor dem Pariser Quartier Latin geähnelt hatte. Es gab Kinos, in denen man für ein Ticket zwei Filme zu sehen bekam: amerikanische und persische Filme. Teheraner Familien bevorzugten persische Filme. Darin wurde eine Atmosphäre erzeugt, die grundsätzlich im Widerspruch zur Modernismus-Propaganda des Schahs stand.
Universitäten und Bordelle
Als der erste Qadscharenherrscher, Agha Mohammad Chan, 1785 Teheran zu seiner Hauptstadt erkor, war die Stadt nur ein namenloses Dorf. Damals ahnte niemand, dass die Wahl dieses zeugungsunfähigen Sultans zu einer der bevölkerungsreichsten Städte der Welt führen würde. Es dauerte mehr als hundertfünfzig Jahre, bis die Versammlung der drei mächtigsten Herrscher ihrer Zeit den Namen dieser Stadt zum ersten Mal in die Schlagzeilen der Weltnachrichten beförderte. Stalin, Eisenhower und Churchill wählten 1943 Teheran als Treffpunkt, um über den Krieg zu beratschlagen. Teheran war damals von den Alliierten besetzt, und zur Zerstreuung ihres Personals wurden Bars und Cafés errichtet, in denen heimatlose Polinnen, die über die russische Grenze nach Iran gelangt waren, mit halbbetrunkenen amerikanischen und britischen Offizieren Walzer und Rumba tanzten. In diesen von Armeniern oder russischen Emigranten geleiteten Cafés gab es Hinterhöfe, in die nur ausgewählte Gäste geführt wurden. Zauberkünstler zogen dort nach Verschlucken eines Taubeneis einen Schwarm Tauben unter ihren Rockschößen hervor, dunkelhäutige, magere Tänzerinnen tanzten in kurzen Röckchen und eng anliegenden Blusen auf langstieligen Kristallpokalen. Dies waren die Nostalgien der älteren Generation, die meine Generation geerbt hat.
Damals gab es in der Stadt ein eigenes Bordell-Viertel, dessen junge Prostituierte, verführte Mädchen aus entlegenen Provinzstädtchen, dem Geschmack fremdländischer Soldaten nicht entsprachen. Knapp fünfzig Jahre später setzten junge Revolutionäre, von denen manche vielleicht zuvor selbst zu ihren Kunden gehört hatten, dieses Viertel in Brand.
Beim Ausbruch der Revolution wurde dörflichen islamischen Rechtsgelehrten die Verwaltung einer Stadt übertragen, die Bordelle, Kinos, Theater, Kabaretts, Schnapsläden, Universitäten und Buchhandlungen besaß. Die Prostituierten verlegten ihre Arbeitsplätze an die Ränder der Straßen und die Schauspieler eröffneten Kebab-Restaurants. Universitäten und Schnapsläden wurden geschlossen. Alles musste islamisch werden, ein Problem blieb aber weiterhin bestehen: Teheran konnte man nicht schließen.
Allein schon die spezifischen Bekleidungssitten und Umgangsformen der Mädchen und jungen Frauen, die den Lebensstil der Islamischen Republik nicht akzeptierten . . . Sie trugen helle, fröhliche Farben, schminkten sich und stellten bei jeder Gelegenheit einen Teil ihres Haars zur Schau. Um die Kultur der Nacktheit, wie es die Verantwortlichen nannten, auszurotten, wurden für den Zugang der Frauen zu Schulen und staatlichen Behörden strenge Vorschriften erlassen, unter anderem beschränkte man ihre islamische Bekleidung auf die drei Farben Schwarz, Braun und Grau.
3 Fragen, 3 Antworten: 1 Urteil
Während des Irak-Krieges hallte Teheran wider von Militärmärschen und Trauergesängen. Die Trauer wurde zur lebhaftesten Farbe der Stadt, und die erstaunliche Begabung der Teheraner zum Weinen trieb außergewöhnliche Blüten. Nach acht Jahren fand der Krieg schließlich ein Ende. Zahlreiche Frontkämpfer kehrten zurück in Städte, in denen die Gewalt sich allmählich etabliert hatte; manche von ihnen wurden mit der Bestrafung unbotmäßiger Frauen und Mädchen auf Teherans Straßen beauftragt.
1988 hat man in den Gefängnissen Hinrichtungsurteile für politische Gefangenen verkündet, die in auf drei Fragen und Antworten beschränkten Gerichtsverfahren verurteilt worden waren. Die Islamische Republik hat nie etwas über diese Gerichte und Urteile veröffentlicht, inoffizielle Statistiken sprechen jedoch von Hunderten, wenn nicht gar Tausenden Hinrichtungen in einem Zeitraum von ein bis zwei Monaten.
Wer behauptet, dass die Erdöleinnahmen kein Glück bringen? Vor einiger Zeit veröffentlichte eine Zeitschrift Fotos der Kamele des Scheichs von Dubai. Kamele, die seit Jahrtausenden in dürren Wüsten unter sengender Hitze Lasten getragen hatten, paddelten nun in den para-diesischen Fluten eines Swimmingpools. Wir Iraner haben ebenfalls einen Anteil am Paradies. Laut Islamischer Republik werden wir es aber erst nach dem Tod erleben, vorausgesetzt wir sind eines Märtyrertods gestorben. Alles an dieser Stadt zeugt davon, dass alle Angelegenheiten auf später verschoben werden – vielleicht auf die Zeit nach dem Tod.
In Teheran arbeitet niemand, die einzige allumfassende und zielgerichtete Tätigkeit der Bewohner dieser Stadt besteht in der Verschwendung der Erdöleinkünfte. Der Staat subventioniert den Benzinverbrauch mit jährlich 60 Milliarden Dollar, damit die Teheraner mit nur einem Dollar zwölf Liter Benzin kaufen können. Die verbrennen sie in dreieinhalb Millionen Autos und vier Millionen auffrisierten Mopeds, die das Doppelte des notwendigen Bedarfs verbrauchen. Durchschnittlich verbringen sie täglich drei Stunden im Verkehr. Sachverständige haben erklärt, dass jede Minute des Atmens in dieser Stadt dem Konsum von neun Zigaretten entspricht. Wir haben mit kollektivem Selbstmord begonnen.
George Bush erklärt ständig, in Bezug auf Iran läge die militärische Option auf dem Tisch. Es wäre besser, wenn Amerika diese Option in die Schublade zurücklegen würde. Auch ohne einen militärischen Angriff ist Teheran in jeder Hinsicht nur eine Station von der Hölle entfernt.
Übersetzung: Susanne Baghestani
Selbstmord im Paradies: Eine Minute Atmen entspricht dem Konsum von neun Zigaretten. Foto: Magnum / Agentur Focus