Vor einem Jahr wurde die junge iranische Kurdin Mahsa Amini, mit ihrer Familie auf Kurzbesuch in Teheran, von Sittenpolizisten wegen des Verstoßes gegen das islamische Verschleierungsgebot festgenommen, kam in Polizeigewahrsam, wo sie Schläge gegen die Schläfe erhielt, ins Koma fiel und in einem Teheraner Krankenhaus drei Tage später ihren Verletzungen erlag. Das war am 16. September. Ihr Tod löste landesweit heftige Entrüstung aus, die zur großen „Frau, Leben, Freiheit!“-Protestbewegung führte und vielen iranischen Städten über Wochen und Monate hinweg rund um die Uhr schwer zu schaffen machte. Beobachter halten diese Protestbewegung für die größte soziale Krise der Islamischen Republik.

 

 

Um dieser Bewegung die Luft abzuschnüren, nahm die Regierung mehr als siebzig Journalistinnen und Journalisten fest und ging mit Gewalt und Schrot­gewehren gegen Demonstranten vor. Die Nachrichtenagentur HRANA (Human Rights Activists News Agency) gibt an, dass die Proteste mehr als fünfhundert Tote gekostet haben und mehr als zwanzigtausend Menschen verhaftet wurden. Sieben davon sind später zum Tode verurteilt worden, wegen Kriegführung gegen Gott. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge bezeichnete diese Urteile als Staatsmorde, Amnesty International sprach zudem von durch Folter erzwungenen Geständnissen. Regierungsnahe Medien hatten mindestens neun der erzwungenen Geständnisse vor der Vollstreckung der Urteile veröffentlicht.

 

 

Einige inhaftierte starben kurz nach ihrer Freilassung an Herzinfarkten, andere begingen selbstmord. Allein in Teherans auf Augenleiden spezialisierter Fa-rabi-Klinik registrierte man binnen zwei monaten nach Beginn der Protestbewegung mehr als 1100 durch schrotkugeln hervorgerufene Blendungen. Am 21. november 2022 forderten 120 iranische Augenärzte mit einem schreiben den Vorsitzenden ihres Verbands dazu auf, die zuständigen stellen auf diese beunruhigende Zahl hinzuweisen.

 

 

Die politische Krise in iran nimmt kein Ende. sie begann Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit der konstitutionellen revolution, dauert bis heute an und hat sich im laufe der letzten 45 Jahre verschärft. Wozu drei schlüsselfaktoren beigetragen haben: ideologisches Denken, ignoranz und Unlauterkeit. Dafür, dass die so entstandene lage andauert, sorgen Täuschung und Gewalt: Täuschung derer, die man hinters licht führen kann, Gewaltanwendung gegenüber denen, die sich nichts vormachen lassen. Täuschung und Gewalt sind auch die Hauptgründe für die legitimitätskrise, in der irans machthaber stecken. Das politische system hat heute seinen absoluten Erschöpfungszustand erreicht, ohne dass es seine Klischees, Dogmen und starren Vorurteile auch nur im Geringsten überwunden hätte. Da diese situation nun seit 45 Jahren fortbesteht, könnte man sagen, dass das, was in iran geschieht, mittlerweile normalität ist – wobei zugleich feststeht, dass die lage unerträglich geworden ist.

 

 

 

sie ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil dessen, was sie sein sollte. Um ihre Gegner und Kritiker in Verruf zu bringen, mischt die regierung sich in deren Privatleben ein, zerrt Dinge ans Tageslicht, macht sie öffentlich. Umgekehrt macht sie öffentliche Belange zu Privatangelegenheiten. Die Bevölkerung weiß beispielsweise nicht, wofür ihre steuergelder ausgegeben werden, die regierung nennt die wahren Zahlen nicht, hält sensible Akten unter Verschluss, stemmt sich gegen jegliche Transparenz. Für Privatangelegenheiten öffnet sie die Vorhänge, bei öffentlichen Angelegenheiten schließt sie sie. in knapp sechs monaten stehen – kaum noch als solche zu bezeichnende – Wahlen an. Parlamentarier wollen wiedergewählt werden. Wer erstmals kandidiert, muss durch den Filter des zwölfköpfigen Wächterrats. Und wer im laufe seines lebens auch nur die geringste Kritik an der islamischen republik geübt hat, passiert diesen Filter nicht.

 

 

Deshalb betrachtet im Volk niemand mehr die Gewählten als seine wahren Vertreterinnen und Vertreter. Wie es um iran bestellt ist, lässt sich im Vergleich mit zwei nachbarländern deutlich machen. Dass es nach den letzten Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in der Türkei wegen knapper Abstimmungsergebnisse zu neuwahlen kam, zeigt, dass in der Türkei die Wahlurne noch Gewicht hat, während in Afghanistan die Taliban die macht über nacht mit Waffengewalt erobert und das leben quasi zum stillstand gebracht haben. iran nimmt eine Position zwischen der Türkei und Afghanistan ein. Das hat viele menschen hierzulande davon überzeugt, dass die Zukunft zu wichtig ist, um sie weiterhin den herrschenden Politikern zu überlassen.

 

 

wie ist die heutige situation entstanden? menschen, die man aus dem öffentlichen raum vertrieben hat, lassen sich
nicht zu den Wahlurnen rufen. Dreimal wurde während der letzten sechs Jahre deutlich, dass sie ein neues politisches Ziel verfolgen: sie wünschen weder herkömmlichen Wahlkampf, noch streben sie konventionelle Teilhabe an der macht an. sie wollen die straße erobern, durch lebensorientiertes Engagement. Die straße symbolisiert alle öffentlichen räume, gegen deren Einengung man sich widersetzt, indem man sie erobert. Die gesellschaftlichen Kräfte möchten diese räume demokratisch nutzen.

 


Wie sind diese Kräfte entstanden? 1979, im Jahr der islamischen revolution, besuchte jeder iraner, und jede iranerin im Durchschnitt zweieinhalb Jahrelang die schule. Heute sind es zehn Jahre – eine beachtliche Zahl im weltweiten Vergleich. in manchen westlichen ländern geht man zwölf bis dreizehn Jahre lang zur schule. in Portugal, den Philippinen und mexiko liegt der Durchschnittswert bei neun, in der Türkei, Brasilien und indonesien bei acht, in Kuwait bei sieben, in Afghanistan bei vier Jahren. Entsprechend stieg in iran in den letzten vier Dekaden der Humankapital-index: 1982 lag er bei rund dreizehn, heute liegt er bei sechzig. Wer sich mit der materie befasst, weiß zu ermessen, wie enorm dieser Zuwachs ist.

 

 

Vierzehn millionen menschen im land haben höhere schulbildung genossen. Wir reden hier von Bildung im tertiären sektor, auf Universitätsniveau. Entsprechend möchten mittlerweile achtzig Prozent der Bevölkerung aufs internet zugreifen. Die menschen interessieren sich sehr für das, was im rest der Welt geschieht, und wollen auch die sozialen netzwerke nutzen.

 

 

Unterdessen triumphiert der private raum, die Familie, über den öffentlichen raum als der von der islamischen ideologie kontrollierten sphäre. Heute haben fünf millionen iranerinnen einen Universitätsabschluss, zwei millionen mädchen und junge Frauen gehen zur schule oder studieren. sieben millionen menschen also, die in dreißig Prozent der Familiendes landes leben und alles, was geschehen ist, beeinflusst haben.

 

 

Dass die Frauen sich nicht länger als Opfer gesellschaftspolitischer strukturen verstehen, sondern sie verändern wollen, hat sie zu Fahnenträgerinnen gemacht. Die im laufe ihres lebens gewachsene Auffassung von Teilhabe und Wahlfreiheit hat sie dazu gebracht, ihre Opferrolle abzuschütteln und ihre Forderungen selbstbestimmt auf die straße zu tragen. Dabei reißen sie fast alle Bereiche der Gesellschaft mit. Allerdings wird das soziale Gefüge derzeit nur noch durch ein einziges einigendes Element zusammengehalten: den Hass auf das herrschende system. Dass der ein zerstörerisches Potential hat und die Bewegung schwächen könnte, liegt auf der Hand.

 

 

Das Volk will politische macht, die machthabenden können diesen Wunsch nicht ignorieren, fürchten aber, jegliches Zugeständnis könnte den Zerfall des gesamten systems bewirken. seit der
„Frau, leben, Freiheit!“-Bewegung ist nichts mehr wie bisher. Viele Frauen und mädchen missachten das islamische Verschleierungsgebot und bewegen sich ohne Kopfbedeckung im öffentlichen raum. Bisweilen versiegeln die Offiziellen Cafés, restaurants, ladengeschäfte und sogar Arztpraxen, weisen Banken und Ämter an, unverschleierten Frauen Dienstleistungen zu verweigern – vergebens. Hier bedroht die staatsmacht menschen, dort sind die sozialen medien voll mit Bildern, die bezeugen, wie gewaltsam sie gegen mädchen und Frauen vorgeht. Auch Passregistrierungen werden angedroht, Ausreiseverbote, hohe Geldstrafen für Protestierende, die Beschlagnahme von Privat-Pkw und andere sanktionen mehr. Doch diese Drohungen verfehlen ihre Wirkung, fast überall in der Öffentlichkeit begegnet man weiterhin unverschleierten Frauen.

 

 

Vier Jahrzehnte lang hat eine kleine schicht der Bevölkerung die Kraft einer ganzen nation dazu genutzt, den niedergang gewisser Traditionen aufzuhalten, bis schließlich weite Teile der Gesellschaft in mehreren städten irans gegen diese Traditionen aufbegehrt und deren Totenglocke geläutet haben. Die regierung indes hält unverdrossen an ihrem Vorhaben fest, den niedergang der Gesellschaft mit althergebrachtem Gedankengut und ausgelaugtem Personal aufzuhalten, und bürdet der nation zu diesem Zweck hohe Kosten auf.

 

 

den Herrschenden scheint zu entgehen, dass, wenn ihr Versuch, Traditionen zu bewahren, mit Demütigung, Armut und Un-
gleichheit einhergeht, die menschen diese Traditionen nicht länger an deren inhaltlichem Gehalt, sondern an den emotionalen Erfahrungen messen, die der Alltag ihnen beschert. Deshalb sind die seit Jahrzehnten andauernden Bemühungen der regierung, irans Geschichte zu prägen, indem der Kulturbetrieb überwacht und lehrbücher umgeschrieben werden, meist gescheitert.

 

 

Dass die „Frau, leben, Freiheit!“-Bewegung noch keine greifbaren Ergebnisse gebracht hat, enttäuscht nicht wenige menschen. Die Desillusionierung hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das viele iranerinnen und iraner dazu bringt, ihrer Heimat den rücken zu kehren. Dieser Braindrain zwang den Vorsitzenden des parlamentarischen Gesundheitsausschusses kürzlich, festzustellen, dass in den vergangenen zwei Jahren mehr als zehntausend Ärzte und andere Angehörige medizinischer Berufe aus iran ausgewandert sind.

 

 

Zurzeit scheint ruhe zu herrschen im land, trotz der mittlerweile aufs Doppelte angewachsenen Armut und siebzig Prozent inflationsrate. Doch Teheran liegt auf der lauer – wie eine verletzte wütende Bestie. Je länger sie lauert, desto größer wird ihre Zerstörungswut. man muss sich fürchten vor dieser stadt, doch die Entscheidungsträger verdrängen ihre Angst. Oder sie wappnen sich. Hin und wieder lassen sie verlauten:
„Wir haben alles unter Kontrolle.“ Dabei beben ihre stimmen, weil die Herrschenden wissen, was alle wissen: Die nächste Attacke wird, sehr bald, wieder blutige Kämpfe bringen.

 

 

Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich. Amir Hassan Cheheltan lebt in Teheran.
Sein jüngster Roman, „Eine Liebe in Kairo“, erschien 2022 bei C. H. Beck.

 

 

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